Kamen.. Unter den SPD-Mitgliedern bröckelt die Ablehnung einer Großen Koalition. SPD-Chef Sigmar Gabriel und NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bekamen bei einer Regionalkonferenz in Kamen von der Basis Rückendeckung für eine „Vernunftpartnerschaft“ mit der Union. Die „Groko“ ist kein Tabuthema mehr.

Umfragen zufolge ist eine große Mehrheit der SPD-Wähler dafür, dass die SPD-Parteibasis dem Koalitionsvertrag mit der Union zustimmt. Laut einer Emnid-Erhebung befürworten 70 Prozent der SPD-Wähler eine schwarz-rote Koalition. Eine Forsa-Umfrage kommt sogar auf einen Zustimmungswert von 78 Prozent unter SPD-Wählern.

Auch unter den SPD-Mitgliedern bröckelt die Ablehnung gegen eine Große Koalition. SPD-Chef Sigmar Gabriel und NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bekamen bei einer Regionalkonferenz in Kamen von der Basis Rückendeckung für eine „Vernunftpartnerschaft auf begrenzte Zeit“ mit der Union. Es gab auch kritische Stimmen. Viele Mitglieder ließen sich aber von Gabriel überzeugen, dass der Koalitionsvertrag eine „sozialdemokratische Handschrift“ trage. Die SPD-Mitglieder können bis 12. Dezember über eine Große Koalition abstimmen.

Das Publikum im Ruhrgebiet ist besonders kritisch

Für SPD-Chef Sigmar Gabriel ist dieser Sonntagsbesuch ex­trem wichtig. Er will werben. Für den Koalitionsvertrag mit CDU und CSU. Es ist aber keine x-beliebige Regionalkonferenz, sondern eine in der SPD-Hochburg Kamen. Das Publikum: 900 Genossen aus Ostwestfalen, dem Münsterland und – sehr wichtig – aus dem Ruhrgebiet. Gerade diese Revier-Genossen gelten als rau und kämpferisch. „Große Koalition“ war bisher für viele von ihnen ein Schimpfwort. Kann das gutgehen für Gabriel?

Der erste Empfang für ihn und NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ist unfreundlich. Vor der Kamener Stadthalle demonstriert die Aids-Hilfe aus Unna mit Regenbogenfahne und Aids-Schleifen. Sie zeigt der SPD auf Plakaten, was sie vom Koalitionsvertrag hält: „Danke für gar nichts!“

Beifall für Gabriel und Kraft

Im Saal warten die Genossen. Sie spenden Gabriel und Hannelore Kraft Beifall. Die Menge ist offenbar nicht hier, um den Koalitionsvertrag zu zerreißen und damit den Vorsitzenden gleich mit. Bemerkenswert: Der Empfang für Gabriel ist freundlich, der für Kraft sogar herzlich. Sie hat ein Heimspiel hier, mitten in NRW. Man nimmt ihr offenbar nicht übel, dass sie zunächst gegen die Große Koalition war und jetzt dafür ist.

Auf mehr als 30 Regionalkonferenzen kämpft die Parteispitze in diesen Tagen gegen die Skepsis der Genossen. Die Öffentlichkeit soll draußen bleiben. Der 12. Dezember ist Stichtag fürs Mitgliedervotum. Bis dahin, so Gabriels Hoffnung, muss die Basis begriffen haben, dass es sich sich bei diesem K-Vertrag um ein im Grunde sozialdemokratisches Papier handelt.

Appell des Vorsitzenden an die „Verantwortung“

Spannend zu sehen, wie der Vorsitzende diese Botschaft unter die Mitglieder streut. Er appelliert an die Verantwortung, die das Mitgliedervotum für jeden mit sich bringe: „Jedes Mitglied trägt die gleiche Verantwortung wie Hannelore Kraft und ich. Es gibt kein Oben und kein Unten.“ Das schmeichelt der Basis. Sie fühlt sich ernst genommen. Das heißt aber indirekt auch: Denkt gut darüber nach, was Ihr tut. Macht keinen Fehler.

Strategie Nummer zwei: Die Gewerkschaften ins Spiel bringen. Die, so Gabriel, sind nämlich zufrieden mit dem K-Vertrag. Und wie kann ein Sozialdemokrat Nein zu etwas sagen, was Gewerkschaftern gefällt? „Wir korrigieren unsere eigene Agenda-Politik“, erklärt Gabriel auf den Konferenzen mit der Basis. Auf diese Botschaft reagieren leidgeprüfte SPD-ler. Eine Große Koalition, die manche „Sünde“ der Schröder-Ära wie die Rente mit 67 und Einschnitte ins Arbeitsrecht teilweise korrigiert? Die müsst Ihr doch wollen, oder?

Hannelore Krafts Botschaft ist die Gleiche wie die von Gabriel. Sie geht das Thema aber von einer anderen Seite an, sagt zunächst nicht, wie Gabriel, was die SPD in den Verhandlungen mit der Union erreicht hat, sondern, was sie nicht erreicht hat: die Bürgerversicherung, die Abschaffung des Betreuungsgeldes, der Verzicht auf die Maut. Dennoch sei der K-Vertrag einer „für die kleinen Leute“.

Manch einer ist zornig

Die meisten Konferenzteilnehmer folgen der Einschätzung ihrer Parteiführung. Aber bei einigen bricht doch der Zorn hervor. Ein Ratsherr aus Dortmund ist enttäuscht, glaubt, dass kommende Generationen den Preis für diese Koalition bezahlen müssen. Mehrfach merken Genossen an, dass eine abgeschaffte Optionspflicht noch längst kein echter Doppelpass ist.

„Wir haben viel Rückenwind für die Unterzeichnung des Koalitionsvertrages erhalten“, sagt Gabriel nach der Konferenz in Kamen. Kraft sagt: „Es gibt Kritik. Aber wir haben auch viel vorzuweisen.“ In der Großen Koalition könne die SPD „das Land ein Stück besser machen“, hatte sie bereits am Samstag bei einer SPD-Veranstaltung in Oberhausen für den Koalitionsvertrag geworben. (mit dpa)