Tripolis. .
Während die Aufmerksamkeit der Welt absorbiert ist von dem Giftgaseinsatz in Syrien und dem Militärumsturz in Ägypten, rutscht Libyen nahezu unbemerkt in die schwerste Staatskrise seit dem Sturz von Muammar Gaddafi. Vor zwei Jahren galt das ölreiche Land noch als Musterfall für eine gelungene internationale Militärintervention. Inzwischen funktioniert nichts mehr in dem nordafrikanischen Mittelmeeranrainer. Von Monat zu Monat versinkt Libyen tiefer in Chaos und Anarchie. Die Autorität der Zentralregierung in Tripolis ist zusammengebrochen.
Öleinnahmen brechen ein
Sämtliche Ölexportanlagen stehen still, die entgangenen Staatseinnahmen summieren sich inzwischen auf mehr als fünf Milliarden Dollar. Verärgerte Kunden wandern ab zu anderen Ölexporteuren wie Nigeria, Saudi-Arabien und Irak. Selbst an den heimischen Tankstellen müssen die Menschen in langen Schlangen für Benzin anstehen. In der Hauptstadt Tripolis bleibt täglich für Stunden der Strom weg, weil es an Diesel für die Kraftwerke fehlt. Auch die Wasserversorgung stockt, denn aufgebrachte Stammeskämpfer legen die Pumpen der Tiefbrunnen in der südlichen Wüste lahm.
Und wieder brachte der 11. September für die einstige „Heldenstadt Bengasi“ neues Unglück. Vor einem Jahr starben der US-Botschafter Chris Stevens und drei seiner Mitarbeiter in den Flammen des US-Konsulates, als El-Kaida-Extremisten das Gelände angriffen und mit Raketen in Brand schossen. Diesmal zündeten Attentäter am vergangenen Mittwoch vor der Niederlassung des Außenministeriums eine schwere Autobombe. Die Explosion verwandelte das Gebäude, das während der Monarchie unter König Idriss I. als US-Konsulat diente, in eine einsturzgefährdete Ruine. Schreibtische, Computer und Akten lagen verstreut auf der Straße. Die Zentralbank nebenan wurde ebenfalls stark beschädigt. Zwei Wachen mussten verletzt ins Krankenhaus, Passanten erlitten Schnittwunden durch umherfliegende Glasscherben.
Zur größten Zerreißprobe jedoch entwickelt sich der Kampf um die Hoheit über die Ölterminals, wo Hafenarbeiter und das aus Ex-Rebellen rekrutierte Sicherheitspersonal seit Wochen streiken und offenbar versuchen, Rohöl an der Staatskasse vorbei auf eigene Rechnung zu verkaufen. Er werde jedes Schiff mit illegaler Ladung „aus der Luft und von See her bombardieren“ lassen, drohte Ministerpräsident Ali Zeidan, dessen Regierung aus einer fragilen Koalition von Islamisten, alten Gaddafi-Getreuen und eingeschworenen Gaddafi-Oppositionellen besteht.
Attentate gehören zum Alltag
Die Führung sei inkompetent und müsse zurücktreten, forderte dagegen der höchste Geistliche des Landes, Mufti al-Sadiq al-Ghiryani. Der Aufbau einer funktionierenden Polizei und Armee kommt nicht voran. Den Regierenden fehlt jedes Rezept gegen das Treiben der bewaffneten Milizen, die militanten Stammeskämpfer und die wachsende Separatistenbewegung im Osten Libyens. Stattdessen gehören Attentate auf Offiziere, Politiker, Journalisten und Richter inzwischen zum Alltag. Auch der libysche Chefermittler, der den Mord an US-Botschafter Stevens in Bengasi aufklären sollte, kam durch eine Bombe ums Leben, die an seinem Auto befestigt war.
In Tripolis wurde dieser Tage sogar der Konvoi der EU-Botschafterin in Libyen auf offener Straße gestoppt und ausgeraubt. Die Täter schossen auf vorbeifahrende Autos, um sie zu verjagen. Und die Polizisten vor dem nahen Luxushotel Corinthia schauten untätig zu.