Essen. . Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin im NRZ-Gespräch: Wenn alle Menschen, die für einen Veggie-Day sind, grün wählen würden...
Der Spitzenkandidat verspätet sich. Der Weg in die Essener NRZ-Zentrale führt über die A 40 – und die ist an einem späten Nachmittag meistens übervoll. Jürgen Trittin nimmt’s gelassen. Der Wahlkampf verlangt vom Grünen-Fraktionsschef derzeit volle Konzentration, auch beim dritten Interview an einem Tag.
Zu Beginn dieses Wahlkampfs hat ihr Wunschpartner keine glückliche Vorstellung geliefert. Jetzt gehen die Umfragewerte der Grünen in den Keller. Was läuft falsch?
Trittin: Das wiederholt sich nach meiner Erfahrung bei jedem Wahlkampf: Anfangs werden wir immer überschätzt, dann kommt eine Delle. Meistens sagt das aber nichts über das Wahlergebnis. Das hat man zuletzt in Niedersachsen gesehen, wo die Zugewinne der Grünen den Regierungswechsel herbeigeführt haben.
In Leserbriefen werden die Grünen oft als Verbotspartei oder als spießig kritisiert. Erreichen Sie mit Ihrer Politik jenseits Ihres Kernklientels überhaupt irgendwen?
Trittin: Ich seh’ mir ja auch Umfragen an. Wenn alle Leute, die für einen Veggie-Day sind, grün wählen würden, könnte sich Frau Merkel schonmal nach einem Ruhesitz in der Uckermark umschauen. Und wenn Sie auf das Rauchverbot in NRW anspielen: Es geht ja nicht um Verbote. Es geht um Verantwortung – und um die Freiheit, ein Bier genießen zu können, ohne gesundheitsschädlichen Rauch einatmen zu müssen.
Trotzdem bleibt das diffuse Gefühl, die Grünen entwickelten sich zu einer Reglementierungspartei.
Trittin: Ach was. Aber es ist Aufgabe der Politik, Regeln zu setzen. Ich bin zum Beispiel für das Verbot der industriellen Massentierhaltung. Sie ist verantwortlich für 18 Prozent der Klimagase weltweit, für eine enorme Gewässerbelastung, für die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen und sie ist in großem Stil mit Tierquälerei verbunden. Da ist eine Reglementierung bitter nötig.
Damit nehmen Sie in Kauf, dass die Preise für Fleisch steigen.
Trittin: Dass frisches Gemüse wesentlich teurer als Fleisch aus Massentierhaltung ist, ist ja auch eine Form der Bevormundung, für die die Agrarlobby verantwortlich ist. Das führt ganz nebenbei zur Fehlernährung.
Sie plädieren also dafür, dass Fleisch teurer wird.
Trittin: Nein, ich plädiere dafür, die Produktion von Fleisch aus der Massentierhaltung einzuschränken. Ob es dann teurer wird, hängt nur an der Nachfrage.
Wie wollen Sie die Menschen dazu bewegen, weniger Fleisch zu essen?
Trittin: Wir wollen sie anregen, über die Folgen des eigenen Lebensstils nachzudenken. Massenhafte Fleischproduktion im großen Stil ist bei 7 Mrd Menschen auf dem Planeten nicht nur Privatsache. Ich bin keiner, der die Leute schuriegelt. Es geht um Verantwortung. Und darum, umweltschädliche Produktionsbedingungen zu beschränken. Dann ist es ganz einfach: Sinkt die Produktion und bleibt die Nachfrage gleich, steigt der Preis. Sinkt die Nachfrage, sinkt auch der Preis.
Eine Kostenfrage ist für die Bürger auch die Energiewende geworden. Der Strompreis steigt unaufhörlich. Was würden Sie dagegen tun?
Trittin:Wir würden die aufgrund politischer Fehlentscheidungen von Schwarz-Gelb aufgelaufenen Mehrbelastungen in einer Höhe von vier Milliarden Euro rückgängig machen. Das würde einem durchschnittlichen 4-Personen-Haushalt 50 Euro im Jahr an Stromkosten sparen – also mehr, als der von Merkel geforderte Ausbaustopp für die Erneuerbaren bringen würde. Es gibt einfach zu viele Ausnahmen von der EEG-Umlage.
Die Geschichte der Erneuerbaren Energie in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Trotzdem wird das Thema Energiewende eher negativ wahrgenommen. Warum ist das so?
Trittin: Das ist gar nicht so. Umfragen zeigen eine überwältigende Zustimmung zur Energiewende. Die großen Energiekonzerne und Schwarz-Gelb versuchen seit Jahren, die Energiewende zu diskreditieren. Erst war es die Kampagne pro Atom als Klimaschützer. Das ist erledigt. Jetzt versucht Schwarz-Gelb die Energiewende mit Vorsatz vor die Wand fahren. In vier Jahren haben die es geschafft, die EEG-Umlage zu verfünffachen, den Ausbau der Erneuerbaren aber nur um 50 Prozent zu steigern. Das ist eine gezielte Strategie, um die Energiewende zu verteuern und die gesellschaftliche Akzeptanz für dieses Projekt zu erschüttern.
Wem soll das dienen?
Trittin: Es geht um Marktanteile. Die Erneuerbaren gehören zu großen Teilen Bürgergesellschaften oder Landwirten. Die großen Stromversorger haben daran nur einen Anteil von fünf Prozent. Wenn die Entwicklung so weiter geht, geht der Marktanteil der großen Konzerne immer weiter zurück. Deswegen haben sie eine Preisdiskussion losgetreten. Deswegen bewerben sie derzeit Modelle, die sich von den bisherigen Fördermodellen in zwei Punkten unterscheiden. Erstens: Sie garantieren die Dominanz der Großen. Zweitens: Sie werden nicht billiger.
Für wie verlässlich halten Sie den schwarz-gelben Atomausstieg?
Trittin: Stellen Sie sich vor, die Pläne der FDP würden Wirklichkeit. Die wollen einen Ausbaustopp für die Erneuerbaren und ein neues Quotenmodell, das mindestens zwei bis drei Jahre braucht, um ans Laufen zu kommen und dann teuer wird. Falls wir dann nicht genügend Ersatzkapazitäten für Atomstrom haben, weil der Ausbau der Erneuerbaren zum Erliegen gebracht wurde, dann wird Schwarz-Gelb diskutieren, ob wir nicht klugerweise wieder auf Atomstrom zurückgreifen und das Gesetz ändern. Wir wissen doch, dass diejenigen, die bisher mit Atomstrom gut verdient haben, nicht aufgeben wollen, damit auch weiterhin Geld verdienen zu können.