Washington. Die jüngsten Giftgas-Anschuldigungen in Syrien stellen die Glaubwürdigkeit von US-Präsident Obama auf eine harte Probe

Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, wäre es der schwerste Chemiewaffen-Angriff seit 25 Jahren. Damals ließ der frühere irakische Diktator Saddam Hussein Tausende Kurden in der Stadt Halabdscha mit Giftgas umbringen. Am Tag nach Bekanntwerden der Vorwürfe der syrischen Opposition, wonach Assad-Truppen in der Nähe von Damaskus rund 1300 Zivilisten mit Giftgas umgebracht haben sollen, darunter viele Kinder und Frauen, ist das Rätselraten jedoch groß: Wurden definitiv Chemiewaffen eingesetzt? Und wenn ja, von den Regierungstruppen oder von der zersplitterten Opposition? Oder, im schlimmsten Fall, von beiden?

Für US-Präsident Barack Obama stellt die jüngste Eskalation im Bürgerkrieg die bislang schwerste Bewährungsprobe für seine angekratzte Glaubwürdigkeit dar. Genau vor einem Jahr hatte er zum Entsetzen seiner engsten Berater den Einsatz von Chemiewaffen durch Assad als „rote Linie“ bezeichnet. Bewusst ungenau verbunden war damit die Androhung, bei Überschreiten dieser Linie die Zurückhaltung aufzugeben und aktiver in den Bürgerkrieg einzugreifen.

Im Juni dann bestätigten die Amerikaner nach monatelanger Überprüfung das, was Briten und Franzosen lange vorher behauptet hatten: Bei Giftgas- Einsätzen der syrischen Armee waren rund 150 Menschen getötet worden. Dem im Kongress danach immer lauter gewordenen Ruf nach einer militärischen Intervention der USA begegnete Obama aber nicht mit dem „großen Hammer“. Sprich: mit der Einrichtung einer Flugverbotszone und/oder Zerstörung der syrischen Luftwaffe. Sondern mit der Ankündigung, den Assad-Gegnern wirksameres Kriegsgerät zu liefern. Was bis heute keine Früchte getragen hat. Im Gegenteil. Die Waffen fehlen. Und Assad erzielte zuletzt sogar Geländegewinne.

Ändert der Präsident nach der neuen Lage seine Strategie, die rhetorisch stets Vergeltung andeutet, in der Praxis Amerika aber trotz über 100.000 Toten aus einer weiteren kriegerischen Auseinandersetzung partout heraushalten will? Ist aus rot jetzt feuerrot geworden? Regierung und Außenministerium wollten gestern davon erklärtermaßen nichts wissen. Sprecher verwiesen auf die von den USA beantragte Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates, der noch am Abend im New York zusammenkam. Weil Russland bereits vorher den Standpunkt vertreten hatte, dass nicht Assad, sondern die Rebellen hinter den Anschlägen gestanden haben sollen, war der Ausgang programmiert: Uneinigkeit, keine Resolution. Nicht mal ein offizieller Untersuchungsauftrag kam am Ende heraus. Moskau und Peking sperrten sich.

Die Hoffnungen ruhen nun auf UN-Inspektoren, die ausgerechnet am Montag in Damaskus angekommen waren, um nach monatelangem diplomatischem Fingerhakeln vor Ort der Frage nachzugehen, ob Assad bereits im Frühjahr Giftgas eingesetzt hat. Der stellvertretende UN-Generalsekretär Jan Eliasson forderte die Regierung in Damaskus auf, den UN-Kontrolleuren ungehinderten Zugang zu allen eventuellen Schauplätzen von Giftgas-Einsätzen zu gewähren. Weil Assad dies in der Vergangenheit entschieden abgelehnt und die Nachforschungen auf drei Orte eingeengt hat, gehen Sicherheitskreise in Washington von einer wochenlangen Hängepartie mit gegenseitigen Schuldzuweisungen aus.

Unliebsame Nebenwirkung: Iran, Saudi-Arabien, Israel, die Golfstaaten, China und Russland werden aufmerksam beobachten, ob Obama seine Drohungen endlich wahrmacht und Amerika als Ordnungsmacht in Syrien positioniert - oder weiter kneift. Untätigkeit in Washington, so vermuten Experten, könnte Assad im Windschatten der Krise in Ägypten dazu verführen, künftig in noch größerem Stil Nervengas gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Als erste Zeitung von Ruf hat die „Washington Post“ am Mittwochabend gefordert, Obama müsse militärisch eingreifen, eine Flugverbotszone einrichten und einen Schutzkorridor für Zivilisten schaffen. Vorausgesetzt natürlich, die Vorwürfe gegen Assad werden hieb- und stichfest untermauert.