Essen. . Die konservative britische Regierung zwingt den kritischen „Guardian“, Snowden-Dateien zu vernichten. Wäre das in Deutschland möglich? Eine Analyse.
Großbritannien, das Mutterland der Demokratie, geht gegen seine wohl kritischste Zeitung vor, den Londoner „Guardian“ und setzt damit seine demokratische Tradition aufs Spiel. Weshalb? Und: Kann das auch in Deutschland passieren?
Erstens: Die britische Regierung hat in der konkreten Angelegenheit wenig davon, wenn die Zeitung Datensätze, die von Edward Snowden stammen, entweder vernichtet oder zurück gibt. Das gibt sie ja auch selbst zu. Wie sagte der hohe britische Regierungsmann zum Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger? „Sie hatten Ihren Spaß“. Eben: Weshalb Material vernichten oder wieder einkassieren, das, jedenfalls zum Teil, schon veröffentlicht wurde? Oder vom „Guardian“ selbstverständlich lange gesichert ist, wahrscheinlich gar nicht mehr in Großbritannien selbst aufbewahrt, sondern anderswo, etwa in Brasilien, von wo aus einer der Enthüllungsjournalisten, Greenwald, arbeitet.
Die Antwort lautet: Die Regierung will die Zeitung einschüchtern. Diesem Muster folgte schon das neun Stunden lange Verhör des Greenwald-Lebensgefährten Miranda auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Vielleicht ist auch ganz einfach Rache im Spiel. Die britische Regierung des konservativen Premiers David Cameron konnte die Veröffentlichung des Datenskandals, in den der britische Geheimdienst tief verwickelt ist, schon nicht verhindern. Da will sie nun wenigstens den Überbringer der Botschaft bestrafen.
Das „Spiegel“-Urteil von 1966
Zweitens: Man muss also festhalten: Großbritanniens Regierung verrät für den Kampf gegen den Terror ihre eigenen Ideale. Nun ist der islamistische Terrorismus sicherlich die derzeit größte Bedrohung westlicher Gesellschaften. Umso mehr ist es wichtig, dass Regierungen sich selbst Rechenschaft geben über den Umgang mit Werten, auf die sie bauen.
Deswegen können wir uns bedanken beim brasilianischen Außenminister Patriota (!). „Wir erleben weiterhin einige Exzesse und Irrwege in der Frage des Kampfes gegen den Terrorismus“, erklärte er, und stellte klar: Der Kampf gegen den Terror müsse auf den Grundsätzen des Multilateralismus, des internationalen Rechts und überhaupt der Rationalität beruhen.
Die Pflicht, zu berichten
Eine Einschränkung persönlicher Freiheiten für einen Zeitraum X kann hingenommen werden, wenn einem Gemeinwesen eine tödliche Gefahr droht. Nicht aber die dauerhafte Verletzung von Grundrechten. Schließlich ist nach wie vor nicht klar, in welchem Umfang und mit welchen Daten Bürger überwacht werden. Und eine Zeitung hat geradezu die Pflicht, zu berichten, auch über Spionage im Regierungsauftrag.
Drittens: In einer demokratischen Gesellschaft ist die freie Presse so etwas wie die „vierte Gewalt“. In Deutschland ist das spätestens seit dem „Spiegel“-Urteil von 1966 durch das Bundesverfassungsgericht anerkannt. Dort heißt es unmissverständlich: „Eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse ist für die moderne Demokratie unentbehrlich.“ Die Bürger müssen politisch entscheiden können, dazu benötigen sie unabhängige Informationen. Das Bundesverfassungsgericht hat eben nicht geurteilt, dass diese Informationen unterbleiben müssen, wenn sie einer Regierung schaden. Es ist das Wesen der Pressefreiheit: Sie bewährt sich unabhängig von politischen oder kommerziellen Interessen. Die Bürger wissen das. Deshalb haben sie ein tiefes Vertrauen in die freie Presse.
Viertens: Eine Hauruck-Aktion wie die der britischen Regierung wäre in Deutschland so nicht möglich. Wer eine Redaktion, die Staatsgeheimnisse aufgeschrieben hat, durchsuchen will, braucht dafür einen richterlichen Beschluss. Zuletzt hat die Bundesregierung erst im vergangenen Jahr noch die Pressefreiheit in Deutschland gestärkt. Sie hat entschieden, dass Journalisten, die ihnen zugespieltes Geheim-Material veröffentlichen, nicht mehr wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat verfolgt werden dürfen.
„Cicero“-Urteil von 2005
Außerdem sind Beschlagnahmen durch den Staatsanwalt nur dann zulässig, wenn gegen Journalisten der dringende Verdacht der Mittäterschaft besteht. Damit hatte die Bundesregierung die Konsequenzen gezogen aus dem sogenannten „Cicero“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. 2005 hatte Karlsruhe entschieden, dass „Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige verfassungsrechtlich unzulässig“ seien, „wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person eines Informanten zu ermitteln“.
Fünftens: In unseren digitalen Zeiten, in denen Geheimdienste über technisch ganz andere Möglichkeiten der Recherche verfügen, ist der Schutz von Informanten schwieriger geworden. Selbstredend will eine Regierung wissen, woher jemand, der aus ihrer Sicht ein Verräter ist, seine Informationen gewonnen und wer ihm dabei geholfen hat. Aber eine anständige Redaktion wird es der Regierung nicht verraten, selbst unter Androhung von Haft nicht.