Kairo. . Mindesten 95 Menschen sterben in der Hauptstadt des „Arabischen Frühlings“, als Soldaten mit Panzern und Tränengas anrücken und die Protestlager der Muslimbrüder niederwalzen. Danach kommt es zu Gewaltakten im ganzen Land: Polizeistationen werden gestürmt, christliche Kirchen brennen. Die Regierung verhängt den Notstand und nächtliche Ausgangssperren.
Nur wenige Freudensalven begleiteten am Mittwoch die Nachricht von der gewaltsamen Auflösung der beiden pro-Mursi Sit-ins in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Schon gegen Mittag war klar, dass die Fernsehbilder vom Morgen nur den Anfang einer Gewaltwelle bildeten.
Wütende Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi, teils unterstützt von erzkonservativen Salafisten, griffen Polizeistationen an und warfen Brandbomben gegen mehrere koptisch-christliche Kirchen in Oberägypten. Die Tamarod-Rebellen haben angeregt, Volkskomitees zu bilden, um die christlichen Gotteshäuser zu schützen.
In mehreren Städten des Landes organisierte die „Allianz zur Unterstützung der Legitimität“ Solidaritätskundgebungen. Vereinzelt gab es Zusammenstöße mit der Polizei. In Kairo wurde der Eisenbahnverkehr nach Norden und nach Süden eingestellt.
Die Banken machten ihre Schalter um die Mittagszeit dicht. Auf den Straßen der Mega-City war kaum Verkehr. Viele Firmen bleiben geschlossen. Strategisch wichtige Installationen wie der Flughafen wurden besonders geschützt. Das Kabinett trat zu einer Krisensitzung zusammen; es will an dem politischen Tansformationsfahrplan festhalten. Der Scheich der al-Azhar-Moschee, der den letzten gescheiterten Vermittlungsversuch unternommen hatte, rief alle Seiten auf, das Blutbad zu beenden.
Hardliner setzen sich durch
Um sieben Uhr am Morgen hatten Militärhelikopter über dem Stadtzentrum von Kairo, die lang gehegten Befürchtungen zur Gewissheit werden lassen. Die Sicherheitskräfte hatten damit begonnen, die beiden Lager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Rabaa al-Adawiya und auf dem Nahda-Platz vor der Kairoer-Universität aufzulösen. Dort fuhren sie mit schweren Bulldozern auf. Walzten die Dutzenden Zelte nieder und vertrieben die Menschen mit Tränengas.
Die Demonstranten reagierten mit dem Abbrennen von Autoreifen. Nach weniger als zwei Stunden melden die staatlichen Medien, der Nahda-Platz sei geräumt. Es hätte zahlreiche Verhaftungen gegeben von Demonstranten, die im Besitz von Waffen gewesen seien, meldeten die Behörden, die für diesen Schauplatz 15 Tote und über 170 Verwundete bestätigten. Alle Straßen, die zum Nahda-Platz führen, blieben vom Polizei und Militär weiträumig abgeriegelt.
Neue Gouverneure aus dem Militär vereidigt
Das Nahda-Camp war zwar das kleinere- jeweils einige Hundert harrten über Nacht aus - aber das strategisch wichtigere, weil es sehr nahe am Stadtzentrum gelegen ist. Die meisten der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern hatten in den vergangenen sechs Wochen in dieser Gegend stattgefunden. Zum letzten Mal am Dienstagabend, als die Muslimbrüder in ganz Kairo mehrere Protestzüge veranstaltet hatten. Sie waren vor mehrere Ministerien in der Stadtmitte gezogen. Einer ihrer Anhänger wurde dabei erschossen.
Diese Strategieänderung könnte der Zündfunke gewesen sein, dass Regierung und Sicherheitskräfte ihre seit Wochen angekündigte Räumungsaktion nun in die Tat umgesetzt haben. Die Vereidigung von neuen Gouverneuren am Dienstag, die wie zu Mubaraks Zeiten fast ausschließlich aus Militär und Polizei stammen, deutet zudem darauf hin, dass sich in der ägyptischen Übergangsführung jene Kreise durchgesetzt haben, die für eine harte Haltung gegenüber den Islamisten eintreten.
„Die Armee tötet uns“
Im Protestcamp Rabaa al-Adawiya im Vorort Nasr City ist die Lage komplizierter. Dort haben sich viele Tausend Mursi-Anhänger seit sechs Wochen eingerichtet. Rabaa al-Adawiya ist zu einer kleinen Stadt geworden, aus der sich die Demonstranten, darunter viele Frauen und Kinder, auch unter Waffengewalt nicht vertreiben liessen.
Einpeitscher auf der Bühne schrien, „Wir sind Ägypter, wir sind Muslime, wir sind keine Terroristen, aber die Armee tötet uns“. Dieses Camp ist die wichtigste Bastion der Muslimbrüder in ihrem Kampf gegen ihre Verdrängung von der Macht. Hier haben sich mehrere jener Führungskader verschanzt, die nach dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten am 3. Juli noch nicht verhaftet wurden.
Das Innenministerium ließ wissen, es gebe Korridore über die jene Demonstranten, die freiwillig den Platz verlassen wollten, ungehindert abziehen könnten. Ihnen wurde auch zugesagt, dass sie nicht verfolgt würden. Die Demonstranten zeigten aber wenig Bereitschaft, auf den friedlichen Protest, den sie als demokratisches Recht einfordern, zu verzichten. Das sei ein blutiger Versuch, jede Stimme gegen den Militärputsch auszulöschen, twitterte Jihad Haddad, einer der Sprecher der Muslimbrüder. Von „Massaker“ und „Genozid“ sprach Mohammed al-Beltagy, Führungsmitglied der Partei der Muslimbrüder.
Brutaler Polizeieinsatz
Die Sicherheitskräfte gingen mit großer Brutalität gegen die Demonstranten vor. Es gab viele Tote und Verletzte, deren Zahl sich im allgemeinen Chaos schwer schätzen ließ. Jede Seite veröffentlichte ihre eigenen Angaben. Das Innenministerium meldete sechs tote Polizisten. Die Muslimbrüder berichteten von Hunderten Toten und Verwundeten.
Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP erklärte am Mittag, er habe in drei Leichenhäusern insgesamt 124 Tote gezählt. Die Ärzte und Helfer in dem notdürftig eingerichteten Feldspital in Rabaa al-Adawiya waren völlig überfordert. Augenzeugen beschrieben in lokalen Medien eindrücklich den massiven Einsatz von scharfer Munition, den die Sicherheitskräfte stets verneinten. In den Wochen seit dem Sturz Mursis waren bereits über 250 Todesopfer gezählt worden.
Weil die Unruhen im ganzen Land zunehmen, ruft die Regierung am Nachmittag für einen Monat den Notstand aus. Nächtliche Ausgangssperren zwischen 19 Uhr abends und sechs Uhr früh sollen das Land befrieden.