Essen. Das Bahn-Chaos in Mainz könnte auf andere Regionen übergreifen. Auch in NRW sind die Stellwerke gefährlich unterbesetzt. Grund ist die Personalpolitik der Vergangenheit, die zu sehr auf Computer setzte. Oder zu wenig.

Das Rhein-Main-Gebiet ist eines der verkehrsstärksten Bahnnetze in Deutschland. Seine Großstädte sind, über die Landesgrenze von Hessen zu Rheinland-Pfalz hinweg, mit einem dichten Geflecht von S-Bahnen verbunden. Der seit Tagen anhaltende Personalengpass der Bahn im Mainzer Hauptbahnhof, wo sieben der 15 Fahrdienstleiter derzeit nicht im Dienst sind, wirft den Takt über den Haufen.

Mehr noch: Am 1. August gegen 16.45 Uhr, eine Woche nach der Bahnkatastrophe im spanischen Santiago, wäre es auch in diesem Netz fast zu einem folgenschweren Crash gekommen. Die nach Offenbach fahrende S1 wechselte nach einer „Störung im Stellwerk“ im Vorfeld des Mainzer Hauptbahnhofs fälschlicherweise das Gleis – und kam nach einer Notbremsung nur wenige Zentimeter vor dem in Richtung Wiesbaden fahrenden Gegenzug frontal zum Stehen.

Beinahe-Crash wegen Personalmangels?

Noch ermitteln Staatsanwälte und Eisenbahnbundesamt. Ob einer der „gravierendsten Vorfälle“ im Schienenverkehr der Region der letzten Jahre in einem Zusammenhang mit dem Notstand bei den Mainzer Fahrdienstleitern steht? Das ist – noch – Spekulation. Doch erinnert der Gesamtbetriebsrat der DB Netz in einem Brandbrief an den Vorstand genau daran: Dass nämlich auch bei dem Beinaheunfall statt der üblichen dreiköpfigen Besetzung des Stellwerks nur zwei Fahrdienstleiter im Einsatz waren. Der Weckruf: Die Lücke sei, bundesweit, keine Ausnahme. Sie sei die Regel.

Im ähnlich strapazierten Bahnnetz Rhein-Ruhr, in dem jeden Tag 2,5 Millionen Menschen unterwegs sind, ist diese Unterbesetzung Alltag. Im Stellwerk des Dortmunder Hauptbahnhofs fielen nach Angaben aus Bahnkreisen im letzten Jahr wegen freier Tage sowie wegen Urlaub und Krankheit 1400 Schichten aus. 20 Prozent. Bisher hat das, soweit bekannt, nie ein Menschenleben in Gefahr gebracht. Aber immer bringt das noch mehr Stress am Dienstpult – und oft Verspätungen.

Folgen einer Zeit, in der es nur ums Sparen ging

Das Drama um die laut Gewerkschaft EVG fehlenden 1000 Fahrdienstleiter, das jetzt den Nah- und Fernverkehr durchschüttelt und Bahnmanager Hansjörg Hess den Job gekostet hat, hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte. Sie reicht in die Zeit zurück, in der es nur um eines ging:ums Sparen.

Lang gediente Bahner erzählen sie so: Sieben computergesteuerte Betriebszentralen sollten in Deutschland die großen Stellwerke ersetzen. Das weckte Hoffnungen auf Senkung der Personalkosten und machte es möglich, für den Beruf des „Eisenbahners im Betriebsdienst“, zu dem auch Fahrdienstleiter gehören, nicht mehr auszubilden. Doch alles wurde anders, die Idee nur in Bruchstücken realisiert. Jetzt managt die Betriebszentrale Duisburg den Verkehr in einem Drittel von NRW bis nach Bochum, die in Hannover macht die Arbeit der Bremer Fahrdienstleiter mit. In anderen Regionen müssen Bahnmanager und Betriebsräte nach dem Aus für den großen Wurf wieder die eingeschlafene Ausbildung auf die Rampe bringen, die nach der allgemeinen Schulung noch eine dreimonatige vor Ort nötig macht, um das eigene „Straßennetz“ kennenzulernen.

Quereinsteiger werden gesucht, für 3000 Euro brutto

Das alles ist mühsam. Quereinsteiger sind gesucht, die für 3000 Euro brutto den Job tun, und einschlägige Lehrer wie in Hagen für die Berufsschulen, berichten Betriebsräte. Es stellt sich erster Erfolg ein. Dortmund wird 2014 zehn, Hagen elf neue Stellwerker bekommen.

Heute heißt der Kurs also: Neue Mitarbeiter müssen her. Der Lokführer wurde auf die Liste der Mangelberufe gesetzt, für die Personal aus dem Ausland anzuheuern ist. Und nach 12.000 Arbeitsverträgen 2012 wurden seit Januar weitere 6000 unterschrieben. Aktuell sind 1600 Jobs zu vergeben. Für Reinigungskräfte, Ingenieure – und die so vermissten Fahrdienstleiter.