Kairo. .

Ägypten verliert seinen Kopf. Seit die Armee Präsident Mohammed Mursi abgesetzt und den Machtspieß umgedreht hat, flutet eine Woge nationalistischer Massenhysterie, bösartiger Verhetzung und taumeliger Militärbegeisterung durch das Land, die nahezu alle mitreißt. Selbst Blogger und Intellektuelle, Liberale und Mitglieder der Demokratiebewegung übertrumpfen sich dieser Tage mit aufgepeitschten Reden.

„Volk und Armee kämpfen gegen eine Terrorgruppe, die versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass in Ägypten ein Militärputsch stattgefunden hat“, trompetete der Sprecher der Rebellengruppe „Tamarod“, Mahmoud Badr. Ein Talkshow-Moderator diffamierte die Muslimbrüder als „sadistische und extrem gewalttätige Kreaturen“. Der liberale Kolumnist Khaled Montaser nannte sie „schlimmer als Kriminelle und Psychopaten“. Sie verstünden nicht die Bedeutung von Heimatland, sie kennten nur die Bedeutung von Kalifat. In das gleiche Horn stieß die einstige Mitbegründerin der Demokratiebewegung „6. April“, Esraa Abdel Fattah. Die Muslimbruderschaft sei eine vom Ausland unterstützte Terrorgruppe, gegen die die Streitkräfte mithilfe des Volkes vorgehen müssten, schrieb sie.

Mit ähnlicher Verbohrtheit und endloser Gegenrede wird der semantische Streit ausgetragen, ob das Eingreifen der Armee ein Staatsstreich war oder eine zweite Revolution des Volkes. Parallel zur Lautstärke der Debatte schwollen dann auch die Zahlen der Anti-Mursi-Demonstranten, die angeblich am 30. Juni auf den Straßen Ägyptens gewesen sein sollen.

Besonnene Stimmensind nahezu verstummt

Inzwischen sind bei allen Anti-Mursi-Kommentatoren 33 Millionen Demonstranten herrschende Weisheit – auch wenn nach seriösen Schätzungen maximal 400 000 auf den Tahrir-Platz passen und zwei Millionen im ganzen Land auf den Beinen waren.

Kein Wunder, dass in diesem aufgepeitschten Klima besonnene Stimmen nahezu verstummt sind. „Nach dem bärtigen Chauvinismus von rechts bewegen wir uns nun zu einem glatt rasierten Chauvinismus von rechts“, zitiert die „New York Times“ die Politologin Rabab el-Mahdi von der amerikanischen Universität Kairo, die zu den Mitorganisatoren des Aufstands gegen Hosni Mubarak gehörte.

Auch Hossam Bahgat, Gründer von Ägyptens Initiative für Personenrechte, zeichnet ein düsteres Bild. Das Ziel der liberalen Kräfte – eine zivile Demokratie, die alle einschließt – erscheine heute weiter entfernt als vor dem Sturz Mubaraks im Februar 2011, schrieb er. Stattdessen fühlten sich die alten Seilschaften und Eliten wieder ermutigt, auf die volle Rückkehr des Mubarak-Systems zu pochen. „Es gibt mächtige und finanziell gut ausgestattete Akteure, die Ägypten nun zurückdrängen wollen in das Jahr 2010“, warnt Bahgat.