Ankara. .

Als sich im Dezember 2010 der Arabische Frühling von Tunesien aus nach Nordafrika und in den Nahen Osten auszubreiten begann, stand der türkische Premier Tayyip Erdogan vor einem Dilemma. Einerseits pflegte er beste Beziehungen zu den meisten arabischen Regimen, den syrischen Alleinherrscher Baschir al-Assad nannte er gar einen „Freund“ und „Bruder“. Andererseits war unübersehbar, dass die Zeit der Diktaturen ablief. Nach kurzem Zögern schlug sich Erdogan auf die Seite der unterdrückten Völker, die um Demokratie und Freiheit kämpften. Den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak mahnte er zum „Aufbau einer neuen Demokratie“. Seinem „Freund“ Assad riet Erdogan, er solle „auf sein Volk hören“, wenn er nicht wie Muammer al-Gaddafi enden wolle.

Gewaltige Protestwelle

Jetzt ist Erdogan selbst in Bedrängnis. Eine gewaltige Protestwelle rollt durch das Land. Aber statt selbst auf sein Volk zu hören, scheint der türkische Premier den arabischen Despoten nachzueifern. Von den so genannten Sicherheitskräften spricht er als „meiner Polizei“. Und wenn die, wie seit fünf Wochen in Istanbul und anderen Städten der Türkei, friedliche Demonstranten mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen attackiert, wenn Wasserwerfer ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und ahnungslose Touristen mit Vollgas durch die Straßen preschen, dann bescheinigt Erdogan der Polizei, sie habe „den Test der Demokratie bestanden“ und ein „Heldenepos“ geschrieben.

Mindestens 66 Demonstranten sitzen in Untersuchungshaft – womöglich noch sehr lange, denn gegen sie wird nach den Anti-Terror-Gesetzen ermittelt. Das bedeutet: Anwälte bekommen keine Akteneinsicht, Verdächtige können bis zu zehn Jahre ohne Gerichtsurteil hinter Gittern bleiben. Auch das erinnert an die Verhältnisse arabischer Diktaturen.

Nach drei Wahlsiegen seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, der AKP, und zehn Jahren im Amt des Regierungschefs, fühlt sich Erdogan stärker denn je. Er glaube „an die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit“, verkündete er vergangene Woche und demonstrierte damit, dass er nichts von der Demokratie begriffen hat -- jener Staatsform, die er einmal als Straßenbahn bezeichnete, in der man lediglich so lange mitfahre, bis man sein Ziel erreicht habe, um dann auszusteigen.

Den Namen Tayyip Erdogan verband man bisher mit dem steilsten und nachhaltigsten Wirtschaftsaufschwung, den die Türkei in ihrer jüngeren Geschichte erlebt hat. Das Wirtschaftswunder, in dessen Verlauf sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte, erklärt die von Wahl zu Wahl steigenden Stimmenanteile der AKP. Selbst viele Türken, die nicht nur zur frommen anatolischen Kernklientel der Partei gehörten, votierten für Erdogan, schien er doch der Türkei eine Ära der inneren Stabilität zu bescheren, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte.

Seine neo-liberale Wirtschaftspolitik machte Erdogan auch für viele türkische Unternehmer wählbar, die aus dem gegnerischen Lager stammen, der säkularen Elite, die sich den Idealen des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk verbunden fühlt. Er legte vor 90 Jahren mit der strikten Trennung von Staat und Religion das Fundament der türkischen Republik. Den Gedanken an Erdogans „geheime Agenda“, die schleichende Islamisierung des Staates, verdrängten viele. Der Boom am Bosporus, die scheinbare politische Stabilität und die wirtschaftliche Blüte, zogen in den vergangenen Jahren nicht nur ausländische Investoren an, sie machten die Türkei auch zu einem Vorbild für viele Menschen in den muslimischen Nachbarländern.

Der Volksheld wankt

Das alles ist jetzt in Gefahr. Erdogan ist drauf und dran, sein politisches Lebenswerk und damit die Zukunft seines Landes zu verspielen. Die brutalen Polizeieinsätze kratzen an Erdogans Bild als Volksheld der arabischen Welt und ruinieren zugleich sein politisches Renommee im Westen. Erdogan erstritt seinem Land zwar 2005 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, aber von der EU ist die Türkei jetzt weiter entfernt als je zuvor seit Beginn der Gespräche.

Das verunsichert Anleger und Investoren, die gerade in der europäischen Perspektive einen sicheren Anker für das Land sahen. Allein in den ersten drei Wochen der Unruhen zogen sie über zwei Milliarden Dollar aus der Türkei ab – ein gefährlicher Trend, denn das Land ist zum Ausgleich seines riesigen Handelsbilanzdefizits dringend auf den Zustrom ausländischen Kapitals angewiesen.

Die erhoffte Vermittlerrolle im Atomstreit des Westens mit dem Iran muss Erdogan wohl abschreiben. Auch im Verhältnis zu Israel und den USA drohen Irritationen, seit Vizepremier Besir Atalay „die jüdische Diaspora“ als Drahtzieher der Proteste verdächtigte.

Mit dem Sturz des ägyptischen Islamisten Mohammed Mursi hat Erdogan seinen wichtigsten Verbündeten in der Region verloren. Die von Erdogan geschürte Polarisierung schwächt die Türkei im Innern und nach außen. Der gesellschaftliche Grundkonsens des muslimisch geprägten, aber weltlich verfassten Landes ist in Gefahr. Statt der angestrebten Rolle einer Regionalmacht droht die Türkei zum Objekt der Entwicklungen, bedenklicher noch, zu einem neuen Krisenherd zu werden.