Kairo. . Tote, die aus Autos gezerrt werden, blutüberströmte Verletzte, die zum improvisierten Feldlazarett wanken: Die Bilder, mit denen Kairo am Montagmorgen erwachte, wackelig aufgenommen von Handy-Kameras, haben das Land schockiert. Nach der Entmachtung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi droht Ägypten ins Chaos abzugleiten. Soldaten des Militärs schossen in Kairo mit scharfer Munition auf eine Demonstration der Mursi-Anhänger.
Bei einem bisher beispiellosen Massaker von Armee und Polizei an Demonstranten der Muslimbrüder sind am Montagmorgen nach Angaben des Gesundheitsministeriums Dutzende Menschen getötet und einige Hundert verletzt worden. Notärzte der Muslimbruderschaft sprachen sogar von 50 Toten und über 1000 Verletzten.
Nach Angaben von Augenzeugen eröffneten die Uniformierten gegen vier Uhr Morgen kurz vor Ende des Frühgebets das Feuer auf die Menge, die seit Tagen vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden ausharren, wo sie den abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi vermutet.
Babys und Frauen
Die Armee dagegen behauptete in einer ersten Stellungnahme, eine Gruppe von Terroristen habe versucht, die Kaserne anzugreifen. Man habe über 200 Leute festgenommen, die Waffen, Munition und Brandsätze bei sich hatten.
Bei den Zusammenstößen sei ein Soldat getötet und 40 verletzt worden. Unter den Opfern befinden sich nach Angaben der Muslimbruderschaft auch fünf Babys und zahlreiche Frauen, eine Information, die von staatlichen Gesundheitsstellen bestritten wurde. Viele Opfer haben schwere Schusswunden in Kopf, Oberkörper und Beinen.
Der in der modernen Geschichte Ägyptens beispiellose Vorfall hat die Spannungen in Land extrem verschärft. Der politische Prozess zur Bildung einer Übergangsregierung kam am Montag komplett zum Erliegen. Die salafistische Al-Nour-Partei erklärte, sie werde sich an der Regierungsbildung nicht weiter beteiligen.
Ein neues Syrien?
Die Muslimbruderschaft rief ihre Anhänger zu einem landesweiten Aufstand gegen die Streitkräfte auf, die Ägypten „in ein neues Syrien“ hereintrieben. „Wir haben als Reaktion auf das Massaker beschlossen, uns mit sofortiger Wirkung aus allen Verhandlungen zurückzuziehen“, erklärte Al-Nour-Sprecher Nader al-Bakkar. Seine Partei hätte sich zur Teilnahme an den Beratungen bereiterklärt, um Blutvergießen zu verhindern. „Nun fließt das Blut in Strömen“, fügte er hinzu.
Übergangspräsident Adly Mansur und Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei, dessen Ernennung zum Regierungschef am Samstag an dem Veto der Salafisten gescheitert war, forderten eine unabhängige und faire Untersuchung der tödlichen Konfrontation. „Gewalt erzeugt Gegengewalt und sollte scharf verurteilt werden“, twitterte ElBaradei. Ein friedlicher Übergang sei der einzige Weg für Ägypten. Zahlreiche Staaten, darunter auch Deutschland, verschärften ihre Reisewarnungen für Ägypten. Die Armee errichtete im Laufe des Tages Sperren an allen großen Einfallsstraßen nach Kairo und Giza.
Blutlachen auf der Straße
„Diese Vorfälle können nicht mit Worten beschrieben werden“, erklärten Ärzte der Muslimbrüder auf einer aufgebrachten Pressekonferenz, die neben der Raba al-Adawiya Moschee ein Notlazarett unterhalten, welches von der Zahl der Verwundeten total überwältigt wurde. Sie beschimpften Generalstabschef General Abdel Fattah al-Sissi als „Schlächter“ und „Mörder“. Der Asphalt am Ort des Geschehens war am Morgen übersät mit Blutlachen. Geparkte Autos und Straßenlampen waren durchsiebt von Gewehrkugeln.
Der Kugelhagel kam offenbar von einem Gebäude, auf dessen Dach mit Sandsäcken geschützte Maschinengewehrnester zu sehen sind. Aktivisten der Muslimbrüder stellten leere Patronenkästen sicher, die die Aufschrift „Ägyptische Armee“ trugen. Zahlreiche Blutlachen und Einschüsse waren viele hundert Meter von dem Wachgebäude der Kaserne entfernt und legen den Schluss nahe, dass die Soldaten auch auf die fliehende Menge feuerten.
Überlebende Augenzeugen zeichneten alle ein ähnliches Bild der Abläufe. Die Angriffe seien ohne jede Vorwarnung erfolgt zuerst mit Tränengas, dann mit scharfer Munition. In der Menge sei totale Panik ausgebrochen, auch weil es zum Zeitpunkt des Massakers noch dunkel war.