Kairo. .
Die sechsspurige Gamaa-Brücke über den Nil ist immer noch mit Steinen übersät, verkohlte Autoreifen liegen auf dem Asphalt. Am Nilufer thront die Salaheddine Moschee im Sonnenschein, während vor ihr auf dem Wasser Fischerboote dümpeln. Die Nilinsel Roda ist normalerweise ein beschaulicher Ort mit schattigen Wohnstraßen und gemütlichen Teehäusern. In der Nacht zu Samstag jedoch erlebte das Viertel Manial einen Alptraum. Bis in die frühen Morgenstunden hallten Schüsse durch die Hausreihen. Wie Anwohner später berichteten, hatte sich eine Handvoll bärtiger Scharfschützen Zugang zum Dach der Moschee verschafft und nahm von oben wahllos Passanten auf dem belebten Vorplatz unter Feuer. Unten gingen Komplizen mit Maschinenpistolen, Macheten und Messern auf die Menschen los.
Sicherheitskräfte griffen nicht ein
Ausgelöst worden waren die Straßenkämpfe, als eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter Muslimbrüder von ihrem Lager vor der Kairo-Universität in Giza versuchte, über die Gamaa-Brücke auf das rechte Nilufer zu kommen, um an der amerikanischen Botschaft vorbei zum Tahrir-Platz zu marschieren. Als sich Einwohner von Manial ihnen entgegenstellten, eröffneten sie das Feuer. „Das Schießen ging bis morgens früh um drei, als wenn denen niemals die Munition ausgehen würde“, sagte später einer der Augenzeugen. Polizei und Armee seien weit und breit nicht zu sehen gewesen. „Fünf Stunden lang ist uns niemand zur Hilfe gekommen“, klagte der Anwohner. Seitdem sind Hausfassaden mit Einschusslöchern übersät. Mindestens zwölf Menschen starben, sechs von ihnen durch gezielte Kopfschüsse – die bisher schwersten Straßenkämpfe in einem normalen Wohnviertel der ägyptischen Hauptstadt.
Nach Schilderungen der Leute begann der Angriff Minuten nachdem der Chef der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie, am Freitagabend im anderen Protestcamp der Islamisten rund um die Rabaa al-Adawiya Moschee in Nasr City die Menge mit einer Brandrede aufgewiegelt hatte. „Sie behandelten uns wie Ungläubige, sie riefen ,Allah ist groß’, während sie gleichzeitig auf uns schossen“, zitierte AFP einen der Überlebenden. Ein Sprecher der Muslimbruderschaft dagegen bestritt, die Angreifer seien aus ihren Reihen gewesen. „Die Führer des Militärcoups wollen unser Ansehen beschmieren, indem sie Leute aus dem Sicherheitsapparat einsetzen, um auf Protestierende zu schießen“, sagte er.
Seit dem Militärputsch am Mittwochabend starben im ganzen Land bisher mindestens 30 Menschen und wurden über tausend verletzt.
Derweil verlieren Armee und Polizei immer mehr die Kontrolle über den Sinai. Bewaffnete zerrten am Samstag einen koptischen Priester aus seinem Auto, der gerade Lebensmittel einkaufen wollte, und erschossen ihn mit einer Salve aus einem Sturmgewehr. Zuvor hatten in der Provinzstadt El Arish auf dem Nordsinai radikale Islamisten den Sitz des Gouverneurs mit Maschinengewehren und Panzerfäusten erobert und die schwarze El-Kaida-Flagge über dem Gebäude gehisst.
Im Internet meldete sich eine neue Extremisten-Gruppe mit Namen „Ansar al-Scharia“ zu Wort. Man sammele Waffen und habe mit der Ausbildung der Mitglieder begonnen. Mohammed Mursis Absetzung, die Schließung islamistischer Fernsehsender und der Tod von islamistischen Demonstranten laufe auf eine Kriegserklärung gegen den Islam in Ägypten hinaus, hieß es in ihrem Gründungsmanifest. Säkulare Gruppen, Anhänger des früheren Präsidenten Hosni Mubarak, koptische Christen, Sicherheitskräfte und das Militär seien für die neue Situation verantwortlich. Sie verwandelten das Land in „einen Kreuzritter und ein weltliches Monster“.
Kämpfe im Krankenhaus
Was diese neue Eskalation bedeuten könnte, davon bekam in Kairo der Chef der Notaufnahme des Qasr al-Aini Krankenhauses in Manial einen ersten Vorgeschmack. 83 Verletzte waren hier am Wochenende eingeliefert worden, darunter 15 mit schweren Schusswunden. „Die anderen hatten Schrotkugeln im Leib, Stichwunden oder sind von Steinen getroffen worden“, sagte der Arzt gegenüber der „New York Times“.
Das Schlimmste aber sei gewesen, dass die Kämpfe auch innerhalb des Krankenhauses weitergingen. „Es gab Tote und Verwundete auf beiden Seiten. Jeder aber wollte den anderen endgültig fertig machen – und so haben sie sich selbst auf den Krankenstationen weiter geprügelt.“