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Wie sich die Bilder gleichen. Straßenschlachten in Istanbul, Gewalt in Rio de Janeiro. Während in der Türkei angespannte Ruhe eingekehrt ist, erreichen die Proteste in Brasilien mit rund einer Million Demonstranten einen neuen Höhepunkt. Bei Kundgebungen in 100 Städten kam es erneut zu Straßenschlachten. Allein in Rio gingen 300 000 auf die Straße, es gab Hunderte Verletzte, ein 18-Jähriger starb.

130 000 Tränengaspa­tronen soll die türkische Polizei während der vor drei Wochen ausgebrochenen Unruhen verschossen haben. Wie es heißt, wurden viele davon in Brasilien hergestellt – ausgerechnet. Nicht nur der beißende Rauch der Gasschwaden in den Straßen von Istanbul und Rio ist gleich, auch die Stoßrichtung der Proteste scheint trotz verschiedener Hintergründe ähnlich: mehr Freiheit, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Chancen, weniger Bevormundung.

In beiden Ländern entstand durch den wirtschaftlichen Aufschwung eine Mittelschicht, die ihre Kinder in gute Schulen schickt, informiert und mündig ist. Getragen werden die Proteste daher vor allem von gut ausgebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Mittelschicht, die nicht nur mehr Kaufkraft verlangen, sondern besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, die nach demokratischer Mitwirkung suchen und sich gegen staatlichen Dirigismus stemmen, die ganz einfach ihr Leben selbst gestalten wollen.

Die Angriffspunkte der Proteste sind vielfältig: Der Staat, die Machthaber, die Banken, die Wirtschaft, die Globalisierung. Das macht es so schwierig, der Bewegung zu begegnen. Soziale Ungleichheit sowie schlechte Aufstiegschancen sieht der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge als einen Treibstoff der Proteste. „Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs ist die Kluft zwischen Arm und Reich in Brasilien noch riesig.“ Dadurch steige die Bereitschaft, sich einzumischen und Forderungen zu stellen.

Ähnlich sieht es der Sozialpsychologe Harald Welzer: „Viele junge, gut ausgebildete Leute suchen ihre Chance, doch es fehlen die Aufstiegskanäle, was großen sozialen Sprengstoff birgt.“ Er spricht daher von einem „Generationenkonflikt“. Auch in Spanien oder Griechenland könnte ein kleiner Funke genügen, um Proteste auszulösen. Welzer: „Es ist in einer Demokratie nicht möglich, auf Dauer die Hälfte der jungen Generation ohne Chancen zu lassen.“