Istanbul. . Mit der gewaltsamen Räumung des Protestlagers im Istanbuler Gezi-Park hat die türkische Regierung die Krise im Land gefährlich eskaliert. Es gab Hunderte Verletzte. Beobachter, darunter Grünen-Chefin Claudia Roth, sprachen von Szenen „wie im Krieg“.

Mit der gewaltsamen Räumung des Protestlagers im Istanbuler Gezi-Park hat die türkische Regierung die Krise im Land gefährlich eskaliert. Hunderte Menschen seien verletzt worden, weil die Polizei bei ihrem Einsatz Gewalt wie im Krieg eingesetzt habe, so die Organisatoren der Proteste.

Die türkische Polizei vertrieb die mehr als zehntausend Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas aus dem Zeltlager. Grünen-Chefin Claudia Roth erlebte die Gewalt in Istanbul mit – und äußerte sich entsetzt: „Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen.“

Nach den Zusammenstößen in der Nacht folgten am Sonntag neue Polizeieinsätze gegen Demonstranten, die zum Taksim-Platz marschieren wollten. Die Regierung verlegte Polizisten aus südostanatolischen Provinzen nach Istanbul und schickte auch die militärisch aufgestellte Gendarmerie in den Einsatz..

Ministerpräsident Erdogan versammelte Anhänger seiner streng islamischen Partei AKP in Istanbul, während die Protestbewegung zur Fortsetzung der Demonstrationen aufrief. Die Regierung kündigte an, hart gegen weitere Proteste vorzugehen: Wer den Taksim-Platz betrete, werde als Terrorrist behandelt.

Es geht auch um Erdogans autoritären Regierungsstil

Grünen-Chefin Roth forderte am Sonntag eine klare Unterstützung für die Bürgerbewegung in der Türkei. „Das ist die neue Türkei. So etwas gab es noch nie. Und wir sind an der Seite der neuen Türkei und machen jetzt nicht die Türen zu.“ Zugleich forderte sie mehr Druck auf die Regierung von Erdogan, der die Polizeigewalt gegen Demonstranten beenden müsse.

Nach einer Nacht voller Gewalt warfen die Protestierenden den Sicherheitskräften Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, weil zur Zeit der Räumung auch viele Frauen mit Kindern sowie ältere Menschen in dem Park gewesen seien. Die Taksim-Plattform verlangte, die Polizei müsse auch aufhören, die Arbeit von Ärzten zu behindern, die den Demonstranten freiwillig helfen.

Die landesweite Protestwelle in der Türkei hatte sich vor mehr als zwei Wochen an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park entzündet. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne, in der es Wohnungen, Geschäfte oder ein Museum geben soll. Inzwischen richten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil von Erdogan.

Erst feiern die Menschen – dann werden sie verprügelt

Vor einer Stunde war sich Cansu noch so sicher gewesen. „Heute Abend passiert nichts, es sind zu viele Touristen da”, sagt die 23-jährige Studentin und Kamerafrau. Der türkische Staat wird doch nicht erneut brutal zuschlagen, wenn die Welt zuschaut, auch in Form zahlreicher Touristen, die sich auch vor ausgebrannten Baufahrzeugen oder der Phalanx der Wasserwerfer fotografieren.

Und gefährlich wirkt es ja auch nicht: Im Gezi-Park feiern die Menschen bei türkischer Musik, Familien bewundern die Zeltstadt, die so dicht ist, dass kaum noch ein Flecken Grün übrig ist. Der kleine Park, der nicht mehr als zwei Fußballfelder misst, ist kein Hort finsteren Widerstands, sondern ein heiteres Happening. Genau wie die Betonwüste des Taksim-Platzes nebenan, dessen Umgestaltung derzeit ruht – wegen der Proteste, die auch zur Besetzung des Parks geführt haben: die grüne Oase soll geopfert werden für den Wiederaufbau einer Kaserne im Osmanischen Stil.

Cansu hat es nicht beunruhigt, dass die Polizei noch immer so massiv Präsenz zeigt. Hatte man nicht gerade heute sogar neue frische Blümchen um das Soldatendenkmal auf dem Taksim-Platz gepflanzt? Hatte Ministerpräsident Erdogan nicht zugesagt, nichts zu unternehmen, bis die Gerichte über das Bauprojekt entschieden haben?

Als die Polizei vor 14 Tagen zum ersten Mal die Baumschützer vertrieb, tat sie es mit so großer Härte, dass es Unruhen im ganzen Land gab. Fünf Menschen starben. Ihre Bilder stehen auf Staffeleien am Eingang des Parks, am Vorabend haben die Menschen zahllose Kerzen für die Opfer aufgestellt, die die gewaltsam niedergeschlagenen Proteste bislang gefordert haben.

Verletzte suchen Zuflucht in der Lobby des Divan Hotels

Der Platz ist voll an diesem Samstagabend. Touristen, Partygänger und einige hundert Protestierer gehen umher, beobachten fliegende Händler, die Schutzhelme, Atemschutzmasken und Taucherbrillen anbieten. Soll helfen gegen Tränengas und Wasserwerfer, ist aber mehr ein skurriles Andenken für viele.

Doch die Stimmung wandelt sich. Hunderte Parkbesetzer stehen auf der großen Freitreppe und beobachten besorgt, dass die Feuerwehr kommt: die Wasserwerfer werden wieder betankt. Doch an den Ernst der Lage will niemand glauben. Dann, kurz vor 21 Uhr, geht alles ganz schnell: Fontänen schießen über den Platz, Tränengasgranaten explodieren. Tausende Menschen rennen auseinander in die zahllosen Straßen und Gassen, die vom Platz wegführen. Die Wasserwerfer rücken nach, schießen ihre Fontänen auch in die engen Gassen, eine kleine Gruppe sieht sich plötzlich in einem bizarren Kindheitstraum gefangen: Sie haben Zuflucht in einem türkischen Süßigkeitenladen gefunden, dessen Besitzer schnell das Rollgitter heruntergelassen hat. Verletzte suchen Zuflucht in der Lobby des Divan Hotels am Rand des Platzes. Dort richten Helfer eine provisorische Sanitätsstation ein. Eine Gruppe von Demonstranten, die den Hoteleingang schützen will und die türkische Nationalhymne anstimmt, wird von der Polizei umzingelt und mit Wasserwerfern sowie Tränengas attackiert.

Augenzeugin Claudia Roth (Grüne): „Das ist wie im Krieg“

Nach Angaben der Protestbewegung werden erneut Hunderte Demonstranten verletzt. Ärzte berichten von schweren Kopfverletzungen, weil die Polizei offenbar Tränengasgranaten direkt auf die Menschen abfeuert. Andere Opfer sollen durch den Einsatz von Gummigeschossen ein Auge verloren haben. Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu spricht dagegen von einem reibungslosen Einsatz, bei dem nur 29 Menschen leicht verletzt worden seien.

Am Sonntag ist der Taksim-Platz erneut von starken Polizeikräften abgeriegelt. Die Protestbewegung ruft dennoch wieder zu Demonstrationen auf. Der türkische Europaminister Egemen Bagis warnte Bürger und Touristen, sich vom Taksim-Platz fernzuhalten. Jeder, der den Platz betrete, werde „von nun an seitens des Staates als Sympathisant oder Unterstützer einer Terrororganisation angesehen“, drohte er.

Die Grünen-Chefin Claudia Roth hat in Istanbul entsetzt miterlebt, wie das Protestlager am Taksim-Platz von der Polizei geräumt wurde. „Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen“, sagte die Parteivorsitzende der Grünen am späten Samstagabend in Istanbul.

Nach Berichten von Augenzeugen schoss die Polizei Tränengas direkt auf den Eingang des Luxushotels Divan, das am Istanbuler Gezi-Park liegt. Viele Demonstranten hatten nach dem Polizeieinsatz auf dem Platz dort Zuflucht gesucht. Die Tränengasschwaden zogen in die Lobby, einige Hotelangestellte griffen nach Gasmasken. Claudia Roth bekommt die Schwaden ab. Sie hustet, reibt sich die Augen, schnappt nach Luft und wird im Keller des Hotels auf einer Bank, die als Krankenlager dient, versorgt. Dem Nachrichtensender N24 sagt sie später: „Das fühlt sich an, als ob man vergiftet wird.“Roth hatte mit den Protestierenden in dem besetzten Gezi-Park gesprochen, bevor der Polizeieinsatz begann. Die Stimmung in dem Protestlager sei friedlich gewesen, sagte sie. (mit dpa)