Istanbul. . Hunderte Verletzte in Istanbul. Familien, Kinder und Demonstranten hatten friedlich gefeiert, niemand rechnete mit dem Einsatz. Regierung warnt Touristen und Bürger: Haltet euch fern vom Taksim-Platz

Vor einer Stunde war sich Cansu noch so sicher gewesen. „Heute Abend passiert nichts, es sind zu viele Touristen da”, sagt die 23-jährige Studentin und Kamerafrau. Der türkische Staat wird doch nicht erneut brutal zuschlagen, wenn die Welt zuschaut, auch in Form zahlreicher Touristen, die sich auch vor ausgebrannten Baufahrzeugen oder der Phalanx der Wasserwerfer fotografieren.

Und gefährlich wirkt es ja auch nicht: Im Gezi-Park feiern die Menschen bei türkischer Musik, Familien bewundern die Zeltstadt, die so dicht ist, dass kaum noch ein Flecken Grün übrig ist. Der kleine Park, der nicht mehr als zwei Fußballfelder misst, ist kein Hort finsteren Widerstands, sondern ein heiteres Happening. Genau wie die Betonwüste des Taksim-Platzes nebenan, dessen Umgestaltung derzeit ruht – wegen der Proteste, die auch zur Besetzung des Parks geführt haben: die grüne Oase soll geopfert werden für den Wiederaufbau einer Kaserne im Osmanischen Stil.

Cansu hat es nicht beunruhigt, dass die Polizei noch immer so massiv Präsenz zeigt. Hatte man nicht gerade heute sogar neue frische Blümchen um das Soldatendenkmal auf dem Taksim-Platz gepflanzt? Hatte Ministerpräsident Erdogan nicht zugesagt, nichts zu unternehmen, bis die Gerichte über das Bauprojekt entschieden haben?

Atemschutzmasken und Taucherbrillen

Als die Polizei vor 14 Tagen zum ersten Mal die Baumschützer vertrieb, tat sie es mit so großer Härte, dass es Unruhen im ganzen Land gab. Fünf Menschen starben. Ihre Bilder stehen auf Staffeleien am Eingang des Parks, am Vorabend haben die Menschen zahllose Kerzen für die Opfer aufgestellt, die die gewaltsam niedergeschlagenen Proteste bislang gefordert haben.

Der Platz ist voll an diesem Samstagabend. Touristen, Partygänger und einige hundert Protestierer gehen umher, beobachten fliegende Händler, die Schutzhelme, Atemschutzmasken und Taucherbrillen anbieten. Soll helfen gegen Tränengas und Wasserwerfer, ist aber mehr ein skurriles Andenken für viele.

Doch die Stimmung wandelt sich. Hunderte Parkbesetzer stehen auf der großen Freitreppe und beobachten besorgt, dass die Feuerwehr kommt: die Wasserwerfer werden wieder betankt. Doch an den Ernst der Lage will niemand glauben. Dann, kurz vor 21 Uhr, geht alles ganz schnell: Fontänen schießen über den Platz, Tränengasgranaten explodieren. Tausende Menschen rennen auseinander in die zahllosen Straßen und Gassen, die vom Platz wegführen. Die Wasserwerfer rücken nach, schießen ihre Fontänen auch in die engen Gassen, eine kleine Gruppe sieht sich plötzlich in einem bizarren Kindheitstraum gefangen: Sie haben Zuflucht in einem türkischen Süßigkeitenladen gefunden, dessen Besitzer schnell das Rollgitter heruntergelassen hat. Verletzte suchen Zuflucht in der Lobby des Divan Hotels am Rand des Platzes. Dort richten Helfer eine provisorische Sanitätsstation ein. Eine Gruppe von Demonstranten, die den Hoteleingang schützen will und die türkische Nationalhymne anstimmt, wird von der Polizei umzingelt und mit Wasserwerfern sowie Tränengas attackiert.

Hunderte Demonstranten verletzt

Nach Angaben der Protestbewegung werden erneut Hunderte Demonstranten verletzt. Ärzte berichten von schweren Kopfverletzungen, weil die Polizei offenbar Tränengasgranaten direkt auf die Menschen abfeuert. Andere Opfer sollen durch den Einsatz von Gummi-Geschossen ein Auge verloren haben. Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu spricht dagegen von einem reibungslosen Einsatz, bei dem nur 29 Menschen leicht verletzt worden seien.

Am Sonntag ist der Taksim-Platz erneut von starken Polizeikräften abgeriegelt. Die Protestbewegung ruft dennoch wieder zu Demonstrationen auf. Der türkische Europaminister Egemen Bagis riet Bürgern und Touristen, sich vom Taksim-Platz fernzuhalten. Jeder, der den Platz betrete, werde „von nun an seitens des Staates als Sympathisant oder Unterstützer einer Terrororganisation angesehen“, drohte er.