Istanbul. Eine Frau im eleganten Sommerkleid steht auf einer Wiese. Ein Polizist sprüht ihr aus nächster Nähe Tränengas ins Gesicht. Das Foto aus dem Gezi-Park im Herzen der türkischen Millionenstadt Istanbul ist weltweit zum Symbol geworden: für Polizeigewalt und -willkür gegen der selbstbewussten Protest friedlicher Bürger. Die junge Frau wäre lieber eine von vielen Unbekannten geblieben.

Sie hat keine Maske gegen das Tränengas. Trägt auch keinen Helm zum Schutz vor Schlägen, keine Parka, um sich gegen die Wasserwerfer zu wappnen, nicht mal einen Schal, mit dem sie ihr Gesicht schützen könnte.

In der weißen Stofftasche, die sie über der Schulter trägt, mögen Bücher sein, sicher keine Molotowcocktails. Sie hat ein rotes Sommerkleid an, schlicht und elegant. Kurze Ärmel, der Rock reicht bis zu den Knien. So steht die junge Frau da, auf dem Rasen im Istanbuler Gezi-Park.

Sie blickt auf die Polizisten, die zwei Meter von ihr entfernt aufgereiht stehen, mit ihren Schilden, Schlagstöcken und Schutzhelmen. Die Frau in Rot sieht aus, als käme sie gerade von einem Einkaufsbummel oder einem Cafébesuch.

Ein Bild geht um die Welt

Ist sie eine Bedrohung für die Polizisten? Offenbar. Denn einer der Männer springt plötzlich auf die Frau zu. Aus einer Sprühpistole spritzt er ihr eine Ladung Reizgas aus kürzester Entfernung direkt ins Gesicht. Die Frau dreht sich weg, versucht zu fliehen, aber der ­Polizist lässt nicht von ihr ab, ­verfolgt sie mit seinem Gift.

Die Bilder von der Frau in Rot gingen um die Welt. Sie sind zu einem Symbol des „Türkischen Frühlings“ geworden, jener Protestwelle, die mit einer friedlichen Demonstration von etwa 50 Naturschützern gegen die geplante ­Rodung eines kleinen Parks in ­Istanbul begann. Die aber vor einer Woche, als die türkische Polizei mit Tränengas, Wasserwerfern und Pfefferspray den Park räumte, wie ein Tsunami über das ganze Land rollte. Seither kommt die Türkei nicht mehr zu Ruhe.

Stadtplanerin an der Technischen Universität Istanbul

Ein Istanbuler Künstler hat die Szene aus dem Gezi-Park nach­gemalt. Auf seinem Bild, das inzwischen an vielen Istanbuler Fassaden klebt, erscheint die Frau in Rot überlebensgroß. Die Polizisten sind dagegen Zwerge. „Je mehr ihr sprüht, desto größer werden wir“, steht darunter.

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Die Frau in Rot heißt Ceyda Sungur, eine Stadtplanerin an der Tech­nischen Universität ­Istanbul. Sie sieht sich nicht als Heldin. „Jeder Bürger, der seine Bürgerrechte verteidigt, jeder Arbeiter, der seine Rechte als Arbeiter verteidigt, jeder Student, der für seine Rechte als Studierender eintritt, hat diese Polizeigewalt erlebt, die ich zu ­spüren bekam“ sagte sie der liberalen Tageszeitung „Radikal“. Ceyda Sungur gehört der Bürgerinitiative „Taksim Plattform“ an, die für den Erhalt des Gezi-Parks streitet. Premier Erdogan will auf diesem Park eine Armeekaserne aus der Osmanen-Ära rekonstruieren lassen.

Erdogan sieht nur „Extremisten“ und „Illegale“

Für Erdogan sind die Demonstranten „Extremisten“, „Faschisten“, „Illegale“, die Verbindungen zu „Terroristen“ haben und vom ­Ausland gesteuert werden. Das Bild von der Frau in Rot scheint ­Erdogans bizarre Feindbilder nicht zu belegen. Man fragt sich, warum sie überhaupt Opfer dieses brutalen Angriffs wurde. Es wird das rote Kleid gewesen sein. Vielleicht darf man in Erdogans Türkei als Frau einfach nicht mehr so freizügig ­herumlaufen, mit kurzem Rock und kurzen Ärmeln, ohne Kopftuch. Auch deshalb sind diese Bilder ein Symbol für den Kulturkampf, den die Türkei jetzt erlebt.

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Ceyda Sungur will jetzt keine Interviews mehr geben. Sie möchte zurück in die Anonymität. Vielleicht fürchtet sie Repressionen. Aber Ceyda Sungur braucht gar keine Interviews mehr zu geben. Die Bilder von der Frau in Rot sprechen für sich. Sie werden über Twitter und Facebook verbreitet. Kein Wunder, dass Erdogan die sozialen Netzwerke als „Plage“ und „die größte Bedrohung“ betrachtet.