Istanbul. . Die Türkei erlebt bei den Protesten gegen Ministerpräsident Erdogan weiter schwere Gewalt. Erdogan sieht Extremisten am Werk, die auch vom Ausland unterstützt werden. Und Twitter hält er für eine Plage. Staatspräsident Gül fährt ihm mit versöhnlichen Tönen in die Parade.

Nach einer neuen Nacht der Gewalt hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seine Drohungen gegen demonstrierende Regierungsgegner verschärft. Der türkische Geheimdienst sei inländischen und ausländischen Gruppen auf der Spur, mit denen noch abgerechnet werde, sagte Erdogan am Montag, bevor er ungeachtet der Spannungen zu einem Besuch nach Marokko abflog. In mehreren Städten der Türkei lieferten sich regierungsfeindliche Demonstranten erneut Straßenkämpfe mit der Polizei.

Schwere Zusammenstöße gab es in der Nacht zum Montag in der Hauptstadt Ankara rund um ein Einkaufszentrum. Bei den Protesten gegen die islamisch-konservative Regierung kam es dort nach Angaben einer türkischen Oppositionspolitikerin zu Massenfestnahmen. Sie habe die Polizei besucht und erfahren, dass 1500 Menschen in Gewahrsam seien, sagte Aylin Nazliaka, Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei CHP, der "Hürriyet Daily News". "Als wir dort waren, kamen neun weitere Busse an." Die Festgenommenen seien gefesselt, Kontakte zu Rechtsanwälten sei nicht erlaubt. Sie würden fotografiert und gedrängt, Geständnisse zu unterschreiben.

Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein

In Istanbul konzentrierten sich die Zusammenstöße in der Nacht auf das Stadtviertel Besiktas im europäischen Teil der Metropole. Die Polizei setzte wieder Wasserwerfer und Tränengas ein. Ein Demonstrant habe versucht, Polizeisperren mit einem gekaperten Bagger zu durchbrechen, berichteten Aktivisten. In dem Stadtteil befindet sich das von der Polizei abgeriegelte Istanbuler Büro von Erdogan. In einer nahe gelegenen Moschee richteten Ärzte eine Krankenstation ein, um Verletzte zu behandeln.

In der Stadt Izmir attackierten Protestierer ein Büro der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP mit Brandsätzen. Das Gebäude habe Feuer gefangen, die Feuerwehr den Brand gelöscht.

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Die Protestwelle hatte sich an der gewaltsamen Räumung eines Protestlagers entzündet, mit dem die Zerstörung des Gezi-Parks am zentralen Taksim-Platz in Istanbul verhindert werden sollte. Inzwischen richten sich die Proteste vor allem gegen einen als immer autoritärer empfundenen Kurs Erdogans.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verfolge das harte Vorgehen der türkischen Polizei mit Sorge, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin: "Das Gebot der Stunde ist Deeskalation und Dialog." Das Recht der Bürger auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sei ein Grundrecht in einer Demokratie.

Erdogan bezeichnet Demonstranten als Extremisten

Erdogan rief vor der Abreise zu seinem Nordafrika-Besuch zur Ruhe auf und erklärte, die Protestwelle gegen ihn und seine Regierung sei von Extremisten organisiert. Vergleiche mit den arabischen Volksaufständen wies er zurück. "Wir haben schon einen Frühling in der Türkei. Einige versuchen aber, diesen in einen Winter zu verwandeln. Sie werden keinen Erfolg haben." Seine Partei habe bei drei Parlamentswahlen wachsende Zustimmung erfahren und das Volk hinter sich. Wütend äußerte sich der Regierungschef auch über Soziale Netzwerke: Nach den ersten gewaltsamen Übergriffen der türkischen Polizei gegen Demonstranten in Istanbul wurde Twitter zur Informationsplattform der Demonstranten. Massenweise berichteten die Nutzer des Kurzmitteilungsdienstes unter Hashtags wie #direngezipark oder #geziparki von der Härte des Einsatzes der Polizei gegen die Protestler. Demonstranten und Aktivisten nutzten zudem Twitter, um sich zu verabreden und zu organisieren. "Es gibt etwas, was sich Twitter nennt - ein Plage. Die größten Lügen sind hier zu finden", sagte Erdogan in einer Fernsehsendung des bekannten türkischen Journalisten Fatih Altayli am Sonntag. "Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung von Gesellschaften"

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Dagegen erklärte Staatspräsident Abdullah Gül: "Demokratie bedeutet nicht allein Wahlen zu haben." Unterschiedliche Meinungen müssten geäußert werden, aber mit gegenseitigem Respekt. "Wir leben in einer offenen Gesellschaft." Die Botschaft der Demonstranten werde gehört. Am Wochenende hatte Gül bereits interveniert, um den wegen Brutalität international kritisierten Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz zu beenden.

Außenminister Guido Westerwelle sieht die Türkei angesichts der Demonstrationen gegen den Islamisierungskurs von Erdogan nicht am Rande einer Revolution. "Die Türkei ist eine Demokratie. Auch wenn wir im Inneren das eine oder andere kritisch anzumerken haben. Ich denke zum Beispiel auch an die religiöse Pluralität. So kann man nicht ernsthaft die Türkei vergleichen mit Ländern in der arabischen Welt, die ja Diktatoren überwunden haben", sagte er dem Nachrichtensender N24.

Zielte die Polizei auf Menschen?

Die Härte der Polizeieinsätze wurde international kritisiert. Im Internet kursierten zahlreiche Videos, auf denen friedliche Demonstranten von der Polizei misshandelt werden. Aktivisten berichteten auch, die Polizei habe auf kurze Distanz Tränengasgranaten auf die Körper der Demonstranten gefeuert und mehrere Menschen schwer verletzt.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bedauerte den „unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ durch die Polizei. Sie forderte in einer am Sonntag verbreiteten Erklärung alle Seiten zur Zurückhaltung auf. „Ein Dialog sollte aufgenommen werden, um eine friedliche Lösung zu finden.“

In Essen kam es nach der Solidaritäts-Demo zu Übergriffen

Aus Solidarität mit den Demonstranten in der Türkei gingen auch in Deutschland mehrere tausend Menschen auf die Straße. In Frankfurt demonstrierten rund 3500 Menschen friedlich gegen den brutalen Polizeieinsatz. In Berlin versammelten sich rund 600 Menschen vor der türkischen Botschaft, um ihre Solidarität zu bekunden. Auch diese Kundgebung verlief laut Polizei ohne Zwischenfälle.

In Essen kam es dagegen nach einer Demonstration mehrerer hundert Teilnehmer zu Ausschreitungen. Auslöser waren Jugendliche, die Fahnen mit dem Konterfei des Chefs der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, schwenkten. Die Polizei habe Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt, die Beamten seien mit Glasflaschen beworfen und mit Stangen angegriffen worden, berichtete die Polizei. Neun Personen wurden in Gewahrsam genommen. (dpa)