Essen.. Der Kämmerer von Essen, Lars Martin Klieve, mahnt seine Stadt und das Ruhrgebiet zur Sparsamkeit: “Wir müssen anfangen, konsequent Schulden zu tilgen.“ Er hält in Essen jede dritte Grundschule mittelfristig für verzichtbar. Jörg Stüdemann, Kämmerer in Dortmund, warnt vor den Folgen der Armutswanderung.
Der Kämmerer von Essen, Lars Martin Klieve, mahnt seine Stadt und das Ruhrgebiet zur Sparsamkeit. „Wir müssen jetzt, in einer Zeit niedriger Zinsen, anfangen, konsequent Schulden zu tilgen“, sagte Klieve dieser Zeitung. Er hält zum Beispiel in Essen jede dritte Grundschule mittelfristig für verzichtbar: „Besser eine exzellent ausgestattete Schule etwas weiter weg als zwei nähere, die marode sind“. Laut Klieve braucht auch nicht jeder Stadtbezirk ein eigenes Bürgeramt. Verzichtbar sei auch so manche Präsenzbibliothek. Und: „Das Ruhrgebiet könnte seine Verwaltungsaufgaben auch mit 70 Prozent des aktuellen Personals erledigen.“ Dortmunds Kämmerer Jörg Stüdemann warnt vor den Folgen steigender Sozialkosten und der neuen Armutswanderung aus Südosteuropa.
Die Städte in NRW sind so hoch verschuldet wie noch nie. Rechnerisch steht jeder Bürger mit 3256 Euro in der Kreide. Gerade im Ruhrgebiet ist die Lage dramatisch. Wir sprachen darüber mit den Kämmerern Lars Martin Klieve (Essen) und Jörg Stüdemann (Dortmund).
Herr Klieve, Herr Stüdemann, wie tief stecken die beiden großen Revierstädte im Schuldensumpf?
Lars Martin Klieve: Die Revierstädte waren früher wohlhabend. Sie glaubten, finanziell geht es sowieso immer weiter. Eine Milliarde Schulden? Warum nicht zwei oder drei oder 30 Milliarden? Die einzige Grenze ist der Nothaushalt, den will keiner. Auf einmal lernen wir aber, dass es eine Endlichkeit öffentlicher Finanzen gibt: in Griechenland, Zypern, Spanien, Italien. Die Einschläge kommen näher. Essen hat aktuell 3,3 Milliarden Euro Schulden. Hinzu kommen die Schulden der städtischen Tochterunternehmen von über zwei Milliarden Euro. Dabei müssen wir bedenken, dass wir uns aktuell in einer einzigartigen Situation befinden: gute Konjunktur und niedrige Zinsen. Das wird aber nicht so bleiben. Wir werden gegen steigende Zinsen ansparen müssen. Deshalb müssen wir jetzt anfangen, konsequent Schulden zu tilgen. Unser Plan ist: Im nächsten Jahr erstmals seit 1982 effektiv die Schulden zu reduzieren.2014 sollen es 34 Mio. Euro sein, die höchste Nettotilgung der Stadt Essen überhaupt, und die wollen wir von Jahr zu Jahr weiter steigern.
Jörg Stüdemann: Dortmunds finanzielle Situation ist nicht so dramatisch wie die in Essen oder Duisburg. Schulden aktuell: 2,16 Milliarden. Wir sind nicht im Stärkungspakt und nicht in der Haushaltssicherung. In Dortmund gibt es starke kommunale Unternehmen wie DEW 21, die den Haushalt entlasten. Dortmunds größtes Problem sind die steigenden Sozialkosten, jedes Jahr 35 bis 40 Millionen Euro mehr. Die Jugendhife kostet immer mehr, der Landschaftsverband bekommt immer mehr. Außerdem belastet uns die Armutswanderung aus Südosteuropa stark, im nächsten Jahr mit vermutlich 15 Millionen Euro. Bund und Land müssen uns daher unterstützen. Wir Kommunen waren nicht an der Integration Europas beteiligt, aber wir müssen jetzt die Lasten tragen. Diese Belastung lässt sich nicht wegsparen.
Was wird 2014 passieren, wenn für Bürger aus Rumänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt?
Stüdemann: Die Armutswanderung dürfte kontinuierlich zunehmen. Es werden auch Senioren zuwandern und kranke Menschen. Wir müssen also eine Verteilungs-Diskussion führen über die steigenden sozialen Ausgaben in Deutschland.
Hat Dortmund auch einen Plan zur Schuldenreduzierung?
Stüdemann: Wir haben den Schuldenanstieg zum Stillstand gebracht und hoffen auf den Haushaltsausgleich für 2015/16. Danach möchten wir in die Entschuldung einsteigen. Aber wegen der steigenden Sozialkosten wird das schwer.
Warum Städte die nahezu pleite sind an Renommier-Projekten festhalten
Warum werden Dortmund und Essen nicht müde, Prestige-Projekte zu finanzieren: Stadion, Messe-Neubau, Konzerthaus. Flughafen…?
Stüdemann: Wir haben nicht die Verschuldungs-Dramatik wie Essen, und wir reduzieren nicht in dem Ausmaß Personal. Wir haben weder Bäder noch Bibliotheken geschlossen, sparen aber dennoch. Die Bäder wurden an die Sportvereine übertragen. Unsere Messe schreibt schwarze Zahlen, weil es nur eine mittelgroße Regional-Messe ist. Sie sollte keinen so großen Auftritt haben wie Essen.
Ist Dortmunds Hang zu Leuchtturm-Projekten nun vorbei?
Stüdemann: Die großen Projekte waren richtig. Das Konzerthaus ist neben Baden-Baden das beste in Deutschland. Es kostet uns rund 2,3 Mio. Euro im Jahr, bringt aber auch viele Touristen in die Stadt. Es gab zunächst auch Kritik am Phoenixsee: Das gibt ein Desaster, hieß es. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Gründstückspreise liegen aktuell bei 700 Euro/Quadratmeter. Alle Grundstücke wurden verkauft.
Was ist mit dem Flughafen und seinem 20 Millionen Euro-Defizit?
Stüdemann: Im Umfeld des Airports liegen 6000 Arbeitsplätze. Eine Entscheidung gegen den Standort wäre eine Entscheidung gegen diese Jobs. Insgesamt bringt der Flughafen der Stadt mehr Geld ein, insbesondere Gewerbesteuer, als er kostet.
Dann müsste doch auch Essen mit dem Messe-Ausbau und dem Stadion alles richtig machen, oder?
Klieve: Wir argumentieren ja ähnlich. Die 13,5 Millionen Euro, die wir zur Messe dazugeben, erreichen uns wieder über den Umweg Hotel-Übernachtungen, Gaststätten, Taxiunternehmen usw. Den Stadion-Neubau halte ich ebenfalls für richtig. Geschäftsgrundlage hierfür: Die halbe Million Euro im Jahr, die uns das alte Stadion für Instandhaltung kostete, dürfen wir auch für das neue als Betriebskosten ausgeben. Und die Investitionskosten liegen im Rahmen unseres Schuldendeckels. Manche haben gesagt: Das Stadion ist die Philharmonie des Nordens. Jedenfalls ist es ein Herzensanliegen über viele politische Richtungen hinweg.
Stüdemann: Das Haupt-Investitionsgeschäft der Städte liegt doch ganz woanders. Wir haben seit 2002 fast eine Milliarde Euro in Schulen, in Bildung, in den offenen Ganztag gesteckt. In Dortmund kosten allein drei neue Berufskollegs 80 bzw. 35 Millionen Euro. Die Städte des Ruhrgebiets sind nicht finanziell nicht in der Lage, mit München oder Stuttgart mitzuhalten. Essen, Dortmund, das gesamte Ruhrgebiet braucht einen Ausgleich, Hilfe von außen.
Also brauchen wir einen einen Ruhrgebiets-Soli?
Stüdemann: Ruhr-Soli ist die falsche Bezeichnung. Es gibt viele Städte in Deutschland, die ähnliche Probleme haben. Und darüber kann man auch eine breitere Solidarität erzielen. Es wäre ein Solidarbeitrag für die Bedürftigen. Den brauchen wir, denn sobald das Zinsniveau wieder steigt, stehen wir hier in einer prekären Situation. Diese Situation könnte leicht unbeherrschbar werden.
Das klingt wie: tickende Zeitbombe?
Stüdemann: So ist es auch.
Klieve: Eine tickende Zeitbombe kann man entschärfen. Man muss jetzt die Gunst der Stunde zur Schuldentilgung nutzen. Das Zinsniveau dürfte wieder deutlich steigen zum Ende des Jahrzehnts. Wir können uns nur darauf vorbereiten, indem wir bis dahin möglichst viele Schulden tilgen. Und Zum Revier-Soli sagte ich: Wir brauchen einen Soli, der zur Schuldentilgung dient. Essen hat seit 1991 insgesamt 700 Millionen Euro in den Fonds Deutsche Einheit eingezahlt. Und das komplett auf Pump. Man sollte auch künftig in diesen Fonds einzahlen. Allerdings müsste man den Zweck des Fonds dahingehend ausweiten, dass hieraus auch die durch die Finanzierung der deutschen Einheit verursachten eigenen Schulden getilgt werden. Wer Hilfe über seine eigene Leistungsfähigkeit hinaus geleistet hat, dem muss auch geholfen werden.
Und wie kann die Region sich selbst finanziell besser aufstellen?
Klieve: Eine Stadt von der Größe Bochums wäre fast überall die Nummer eins oder zwei eines Bundeslandes. Da kann Bochum natürlich sagen: Eine so große Stadt braucht eben eine Philharmonie. Nun gibt es aber auch eine in Dortmund und in Essen. Und da sollte man sich doch fragen, ob es richtig ist, hier Kulturhäuser wie Perlen auf der Schnur zu haben. Die Dichte der Bühnen zwischen Bonn und Dortmund ist wohl so groß wie nirgendwo anders auf der Welt. Es braucht aber nicht jeder eine Bühne vor der eigenen Haustür.
Fließt wirklich zu viel Geld in die Kultur, Herr Stüdemann?
Stüdemann: Nein. Dortmund gibt 3,4 Prozent des Gesamthaushaltes für Kultur aus, Frankfurt 12 Prozent, süddeutsche Großstädte 6 bis 8 Prozent. Man könnte ja an ein, zwei Prozent noch herumknapsen, aber in Relation zu den steigenden Sozialausgaben ist das zu vernachlässigen.
Was halten Sie von der Idee, die Zahl der Stadtbezirke und Bezirksverwaltungen im Revier zu reduzieren?
Stüdemann: Der neue Rat wird sich im Herbst damit beschäftigen. Wir sollten weiter darüber nachdenken, die Stadtbezirke in Dortmund zu reduzieren. Der Einspareffekt wäre aber relativ klein: 1,8 Millionen Euro.
Klieve: In Essen gibt es den Vorschlag, von neun auf drei Bürgerämter zu reduzieren. Warum brauchen wir in jedem Stadtbezirk ein eigenes Bürgeramt? Eine verkehrlich hervorragend angebundene Anlaufstelle am Hauptbahnhof könnte reichen. Viele Behörden-Angelegenheiten lassen sich heute sowieso zu Hause am PC erledigen. Dieses Potenzial ist absolut noch nicht ausgeschöpft. Ich frage auch: Brauchen wir die Vielzahl von Präsenzbibliotheken? Sollten wir die Bücher nicht lieber zu den Leuten bringen? Alle Schulen haben doch internetfähige PCs. Also kann man dort auch übers Internet Bücher bestellen. Auf diese Weise könnte man manche Nebenstelle einsparen und würde, bei entsprechender Einbindung in den Schulbetrieb, bildungsferne Kinder sogar besser erreichen. Man könnte auch alle Stadtbüchereien des Ruhrgebiets miteinander vernetzen. Alle Bürger könnten sich aus dem ganzen Fundus bedienen, und die Bücher würden zu den Lesern gebracht.Ach, es gibt noch viele andere Ideen für mehr Zusammenarbeit im Revier: Ein revierweites Katasterwesen, eine Statistikstelle, eine zentrale Gehalts- und Beihilfeabrechnung, Forstverwaltung aus einer hand, auch eine Zusammenlegung der Rechtsämter. Warum haben wir nicht ein Nahverkehrs-Verkehrsunternehmen für die ganze Region? Und wenn es mehrere Verkehrs-Gesellschaften sein müssen, dann sollten sie im Wettbewerb miteinander stehen.Überall dort, wo in der Verwaltung keine direkte Leistung am Bürger erbracht wird (Back Office), kann man zentralisieren. Das Ruhrgebiet könnte so seine Verwaltungsaufgaben auch mit 70 Prozent des aktuellen Personals erledigen.Wir müssen auch nicht sämtliche Schulen erhalten, weil es weniger Schüler geben wird. Die Schulen, die wir erhalten, könnten wir dann aber besser ausstatten. Besser eine exzellent ausgestattete Schule etwas weiter weg als zwei nähere, die marode sind. Man könnte in Essen ein Drittel der Grundschulen reduzieren: Von 90 auf 60 innerhalb von vier bis sechs Jahren. Diese 60 Schulen wären aber in einem Topzustand.