Berlin. . Seit ihrer Gründung beherrscht der Zwiespalt zwischen Realpolitik und Zukunftsvision die Sozialdemokratische Partei. Dies beweist ein Blick in ihre Geschichte.

150 Jahre Sozialdemokratie: Beim Festakt heute in Leipzig blickt die älteste deutsche Partei auf große Erfolge, aber auch auf historische Irrtümer. Und auf schmerzhafte Auseinandersetzungen um den richtigen Weg: Wie ein roter Faden zieht sich durch die SPD-Geschichte der Widerstreit zwischen Realpolitik und Zukunftsvision, Reform und Klassenkampf, Pragmatismus und Grundsatztreue. „Die SPD lebte über weite Strecken in einer für sie typischen Spannung zwischen unzulänglichen Realitäten und der Vision einer besseren Zukunft“, be­schreibt Parteienforscher Franz Walter den Zwiespalt.

Zwischen Sein und Sollen: sieben Wegmarken der SPD.

Reform gegen Revolution: Ferdinand Lassalle, der am 23. Mai 1863 in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) gründet, hat keine Revolution im Sinn. Die erste selbstständige Parteiorganisation der Arbeiterbewegung setzt ihre Hoffnung auf den Kampf für das allgemeine Wahlrecht, mit dessen Hilfe soziale und demokratische Reformen durchgesetzt werden sollen.

Ganz anders agieren August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) gründen. Sie glauben fest an den baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems, dem ein Volksstaat mit sozialistischer Produktionsweise folgen soll. Reform oder Revolution? Erst durch den äußeren Druck des Kaiserreichs nähern sich beide Lager an, 1875 kommt es zur Fusion zur SAPD und nach dem Ende der Sozialistenverfolgung zur Gründung der SPD, die schnell zur Massenpartei wird. Doch die Grundsatz-Kontroverse tobt weiter, der sendungsbewusste Parteichef Bebel ist Wortführer eines orthodoxen Marxismus.

Historischer Fehler: 1914 hat die Partei bereits eine Million Mitglieder, aber keine Macht. Dann kommt es doch auf sie an. Die SPD stimmt im Reichstag am 4. August den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zu, um zu zeigen, dass auch Sozialdemokraten gute Patrioten sind, nicht „vaterlandslose Gesellen“. Die Entscheidung ist hoch umstritten, die Arbeiterbewegung spaltet sich, die USPD wird gegründet. Das Ja zu den Kriegskrediten gilt für Parteichef Sigmar Gabriel heute als „historischer Fehler“.

Gründungspartei ohne Fortune: Die SPD ist Treiber der ersten deutschen Demokratie. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft die Republik aus, der pragmatische Friedrich Ebert wird erster Reichspräsident. Doch als Gründungspartei der Weimarer Republik hat die SPD, angefeindet von der KPD wie vom bürgerlich-konservativen Lager, wenig Erfolg. Viele Genossen sind erleichtert, als die SPD mehr und mehr die Regierungsverantwortung abgibt. Die Enttäuschung über die Entwicklung der Republik, der Rückzug ins eigene Milieu wird zur prägenden Erfahrung für die Partei.

Die Heldentat: Am 23. März 1933 stimmt die SPD als einzige Reichstagsfraktion gegen das Ermächtigungsgesetz, mit dem Hitler die Demokratie zerstört. Das Parlament entmachtet sich selbst, überträgt alle Macht den Nazis. SPD-Fraktionschef Otto Wels sagt: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Für die SPD ist es heute die mutigste Leistung ihrer Geschichte.

Realitätsverweigerung: In der Bundesrepublik kann die SPD an ihre alte Rolle nicht anknüpfen, Gründungspartei wird sie nicht. Stattdessen beginnt unter dem Parteichef Kurt Schumacher eine Phase der Realitätsverweigerung, die ins politische Abseits führt. Die SPD ist gegen Wiederbewaffnung, Adenauers Kurs der Westbindung, auch gegen die Marktwirtschaft. Erst mit dem Godesberger Programm 1959 unternimmt sie einen Kurswechsel, um die Macht im Staat demokratisch zu erringen.

Als Friedenspartei auf und ab: Unter Bundeskanzler Willy Brandt erlebt die SPD ab 1969 einige glänzende Jahre. Brandt hat als Vorreiter einer neuen Deutschland- und Ostpolitik eine Mission. Die SPD macht er zur „Partei des Friedens“, baut zugleich den Sozialstaat massiv aus. Der alte Zwiespalt scheint endlich überwunden. Doch dann muss Brandt wegen der Affäre um den DDR-Spion Guillaume zurücktreten, dem Charismatiker und Visionär folgt der Pragmatiker Helmut Schmidt – der die SPD durch Zeiten der ökonomischen Krise und der Terrorbedrohung führen muss.

Die Sozialdemokraten verlieren ihre Bindewirkung, die Grünen gründen sich. Der Streit um die Nachrüstung, um den von Schmidt vehement verteidigten Nato-Doppelbeschluss, belastet die Partei. Als die SPD 1982 die Regierungsverantwortung verliert, sind die Genossen zermürbt. In der Opposition lehnt die SPD die Aufstellung neuer Raketen ab – doch eben dieser Rüstungsdruck wird den Zerfall der Sowjetunion einleiten.

Reformkurs und neue Konkurrenz: Parteichef Oskar Lafontaine sorgt für die Grundsatztreue, Bundeskanzler Gerhard Schröder für einen pragmatischen Regierungskurs: Diese Formation hält nach der Bundestagswahl 1998 nicht einmal ein Jahr. Dann schmeißt Lafontaine hin. Schröder setzt in der Zeit danach zahlreiche Reformen durch, aber am Ende zerreißt seine Politik die SPD beinahe: Seine „Agenda 2010“ führt indirekt zur Gründung einer neuen gesamtdeutschen Linkspartei. Bis heute ist die Hartz-Reform für viele Genossen ein Trauma – für Pragmatiker indes die mutige und entscheidende Wende, um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen.