Tel Aviv. Israelische Kampfflugzeuge griffen nach Medienberichten ein militärisches Entwicklungszentrum in Syriens Hauptstadt Damaskus an. Ziel des Luftschlags soll eine Lieferung iranischer Raketen an die libanesische Hisbollah-Miliz gewesen sein. Doch warum dieser Angriff? Und warum jetzt? Eine Analyse.

Der Syrienkonflikt weitet sich gefährlich aus. Israelische Kampfflugzeuge griffen nach Medienberichten gestern ein militärisches Entwicklungszentrum in der syrischen Hauptstadt Damaskus an. Ziel des Luftschlags soll eine Lieferung iranischer Raketen an die libanesische Hisbollah-Miliz gewesen sein. Die syrische Seite sprach von einer „Kriegserklärung“ und drohte mit Vergeltung. Israel rüstete sich für mögliche Gegenangriffe und verlegte Flugabwehrraketen an seine Nordgrenze. Doch warum dieser Angriff? Und warum jetzt? Eine Analyse.

Israels Politiker sprechen schon seit Jahren nicht mehr von „Frieden“. Längst ersetzten sie das geladene Wort mit einem neuen Schlüsselbegriff: „Status Quo“ – der „gegebene Zustand“. So tauschten sie das Ideal des gütlichen, dauerhaften Kompromisses mit der Idee aus, Israels Sicherheit werde angesichts des zunehmenden Chaos, Fanatismus und der Unbeständigkeit in der Region vorerst am besten mit Abschreckung garantiert. Ein solcher Status Quo herrscht beispielsweise zwischen Israel und der Hamas in Gaza. Beide haben ein Gleichgewicht des Schreckens gefunden. Sie wissen, dass sie sich gegenseitig nicht auslöschen, dafür aber erheblichen Schaden zufügen können. Diese Gewissheit sorgte an Israels Südgrenze seit November für beispiellose Ruhe.

Lieber ein gezieltes Bombardementals ein umfassender Waffengang

Dieselbe Situation herrschte bislang an Israels Nordgrenzen zu Syrien und dem Libanon. Seit dem zweiten Libanonkrieg ist es an dieser Grenze totenstill. Nun fürchtet Israel den Transfer „strategischer Waffen“ an die Hisbollah, der den hiesigen Zustand aus seinem Schreckensgleichgewicht bringen könnte. Dies, meinen Israels Kommentatoren einhellig, sei der Hintergrund für den Angriff auf Damaskus. Lieber jetzt die Waffen mit einem gezielten, begrenzten Bombardement ausschalten, als sich ihnen später in einem umfassenden neuen Waffengang stellen.

Seit Jahrzehnten liefert der Iran der Hisbollah Raketen über den Flughafen in Damaskus. Israel könnte jetzt versucht sein, die Schwäche des syrischen Präsidenten Baschar Assad zu nutzen, um diesen Lieferungen endgültig einen Riegel vorzuschieben.

Der Angriff auf Damaskus sendet Signale nach Beirut und Teheran: Zum einen will Israel keine Waffenlieferungen an die Hisbollah mehr hinnehmen. Zum anderen sind die gewaltigen Explosionen in den Kassyut Bergen auch ein Hinweis darauf, dass Israel Bomben besitzt, die die befestigten Waffenbunker der Syrer durchdringen können. Zweifellos werden auch die Architekten des iranischen Atomprogramms versuchen, daraus Lehren zu ziehen.

Der Zeitpunkt des Angriffs lässt aber auch eine andere These zu. Zweifellos wurde der Schlag monatelang vorbereitet. Warum also jetzt zuschlagen? Die USA schienen die Attacken nicht nur gebilligt, sondern sich sogar über sie gefreut zu haben. Israel hielt still, um Assad nicht zu desavouieren und so zum Rückschlag zu zwingen. Stattdessen sickerten Berichte über Israels Angriffe aus Washington durch.

Das könnte Absicht sein. US-Präsident Barack Obama hat sich mit seiner Drohung, auf den Einsatz chemischer Waffen in Syrien zu reagieren, selber in eine Zwickmühle manövriert. Nach den Debakeln in Afghanistan und dem Irak, angesichts des Resultats der Einmischung in Libyens Bürgerkrieg, und inmitten des Streits um Irans Atomprogramm, will er seine Truppen nicht auf ein weiteres Abenteuer im Nahen Osten schicken. Andererseits droht dem US-Präsidenten erheblicher Gesichtsverlust, wenn er Assads Giftgaseinsatz schlicht übersieht.

Ein Signal an den Iran: Notfallswird Israel von der Leine gelassen

Israels Angriff auf Raketendepots in Damaskus wären ein eleganter Ausweg: Einerseits gefährdet er die USA nicht, andererseits werden bedeutende Trägersysteme für Assads Giftgas zerstört. Der US-amerikanische Präsident kann sich wieder als entschlossener Führer der freien Welt präsentieren, und Kritiker daheim beruhigen. Und gleichzeitig wäre auch dies ein wichtiges Signal an den Iran: Wenn Obama unfähig ist, die roten Linien, die er selber zog, auch durchzusetzen, kann er – besonders nach neuen Waffenlieferungen – immer noch Israel von der Leine lassen.