Washington/Moskau. .
Sie haben ohne Nabelschnur zu einem Terrornetzwerk getötet. Der große Bruder war die treibende Kraft. Sein Motiv: den vom Westen „bedrohten“ Islam zu „beschützen“. Das sind die wichtigsten Informationen, die Dschohar Zarnajew Vertretern der amerikanischen Justiz bisher gegeben hat. Ob die Angaben des 19-Jährigen über die Hintergründe des Bombenanschlags auf den Marathonlauf in Boston stimmen, wird ein Prozess vor einem zivilen Bundesgericht zeigen, in dem Zarnajew die Todesstrafe droht. Geplanter Auftakt: Ende Mai. Beide Brüder gelten als streng gläubige Muslime. Tamerlan starb am vergangenen Freitag nach einer Schießerei mit der Polizei. Der 26-Jährige hatte sich nach vorläufigen Erkenntnissen der Ermittler in den vergangenen Jahren eine militante, kompromisslose Auslegung des Koran zu eigen gemacht.
Der russische Geheimdienst hatte die Bundespolizei FBI 2011 gebeten, Zarnajew unter die Lupe zu nehmen. Man befürchtete ein Abdriften des gebürtigen Tschetschenen in islamistische Kreise. Das FBI fand dafür keine Anhaltspunkte. Dass Tamerlan Zarnajew im Sommer 2012 von einem sechsmonatigen Russland-Aufenthalt unerkannt in die USA zurückkehren konnte, sei möglicherweise durch einen Schreibfehler des Namens zu erklären, schreiben US-Zeitungen unter Berufung auf das FBI.
Der Kaukasus brennt seit 1994
Dass die Brüder keine Hintermänner in Russland hatten, behaupten in seltener Eintracht auch der nordkaukasische Terroristenführer Doku Umarow und die russischen Sicherheitsorgane. Und doch scheint es kein Zufall zu sein, dass die Gebrüder aus dem Nordkaukasus stammen, wo seit 1994 „Heiliger Krieg“ lodert. Dschochar ist Jahrgang 1993. Auch wenn er und sein Bruder Tamerlan nur wenige Jahre im Kaukasus gelebt haben, sie sind Kinder dieses Krieges.
Schon bei der Abwehrschlacht um die tschetschenische Hauptstadt Grosny Silvester 1994 schallte der islamische Schlachtruf „Gott ist groß!“ Und in den Reihen der Tschetschenen fochten arabische Guerilleros, etwa der für seine Grausamkeit berüchtigte Feldkommandeur Ibn Al Chattab. Gemeinsam mit dem tschetschenischen Chefterroristen Schamil Bassajew, auch Absolvent eines El- Kaida-Trainingslagers in Afghanistan, setzte er in Tschetschenien zwischenzeitlich die Scharia durch. Allerdings betrachteten gemäßigte Separatistenführer wie Dschochar Dudajew oder Aslan Maschadow, ebenso die tschetschenische Bevölkerungsmehrheit den Islam eher als moralische Klammer gegenüber den russischen Gegnern, nicht als Staatsideologie. Die Niederlage im zweiten Tschetschenienkrieg gegen die russische Armee kostete Chattab und Bassajew das Leben. Die Reste der Rebellen gingen in den Untergrund.
Dort kämpfen sie bis heute weiter. Es gelang den Rebellen, ihren Kleinkrieg auf die Nachbarrepubliken Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien auszuweiten. Ihr Oberhäuptling Umarow rief 2007 das „Emirat Kaukasus“ aus, einen muslimischen Gottesstaat, der auch russisch besiedelte Nachbarregionen und einen Großteil der russischen Schwarzmeerküste beansprucht.
Nach verschiedenen Schätzungen kommandiert Umarow 500 bis 5000 Kämpfer. Seine Islamisten erhalten offenbar weiter Unterstützung internationaler islamischer Netzwerke. Umgekehrt exportiert der Nordkaukasus jetzt islamistische Guerilleros nach Afghanistan und nach Syrien. Obwohl es dem kremltreuen und gleichzeitig stramm muslimischen Republikchef Tschetscheniens Ramsan Kadyrow gelungen ist, Tausende Rebellen „abzuwerben“, indem er sie in seine gut besoldeten Sicherheitskräfte aufnahm.
Viele Menschen wandern aus
Viele junge Kaukasier werden aus Protest gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit Islamisten. Dazu produzieren gerade die Sicherheitsorgane immer neue Untergrundkämpfer. Seit Jahren verschleppen, scheren, verprügeln oder foltern sie junge Muslime. Diese rächen sich dann als Heckenschützen oder Bombenleger an Polizisten, Beamten oder staatstreuen Geistlichen. Die Folge ist Exodus. Wer kann, geht nach Moskau, nach Petersburg – oder emigriert in die USA. Aber auch in der Diaspora droht jungen Kaukasiern die Gefahr der Radikalisierung. Umstellt von Karriere- und Konsumparolen, in Russland oft als „Schwarzärsche“ angefeindet, von ratlosen Eltern missverstanden, suchen viele Jugendliche auf einschlägigen Websites nach einfachen Wahrheiten. „Eine Studentin aus Kabardino-Balkarien, die bei ihrer Tante wohnt, ist übers Internet zur Islamistin geworden“, erzählt der Petersburger Ethnologe Bibolet Beikulow. „Sie saß nur noch vor dem Computer, erst nachdem ihre Eltern zweimal anreisten und sie verprügelten, war sie wieder bereit, Jeans anzuziehen.“ Der kaukasische Islamismus ist noch lange nicht besiegt.