Boston. . Nach der Verhaftung des mutmaßlichen Terroristen Dschochar Zarnajew kehrt wieder Ruhe ein in Boston. Jetzt will die Stadt wissen, was den jungen Mann und seinen Bruder antrieb. Finden sich die Antworten im Haus 410 Norfolk Street?

„Ich bin sehr froh, dass er nicht tot ist.“ Als Sandy Jeffe den Satz ausgesprochen hat vor der Polizeiabsperrung an der Franklin Street in Watertown, drehen sich andere Schaulustige ungläubig um. Die Frau hat miterlebt, wie in dem idyllischen Vorort von Boston die größte Terroristenjagd zu Ende gegangenen ist, die Amerika seit dem 11. September 2001 erlebt hat.

Sandy Jeffe zeigt den Reportern flackernde Handykamera-Aufnahmen. Sie ist eine Nachbarin von David Henneberry. In seinem auf dem Hof abgestellten Boot hatte sich Dschochar Zarnajew, einer der beiden Bombenleger des Marathonlaufs, schwer verletzt verschanzt. Bis ihn ein Sondereinsatzkommando nach dramatischer Fahndung am Freitagabend festnahm. Henneberry selber hatte den blutüberströmten Studenten entdeckt und die Polizei alarmiert. „Ich will wissen, was den Jungen zu den Anschlägen getrieben hat“, sagt Sandy Jeffe, „denn wenn er stirbt, wird sich die Wunde in dieser Stadt nie schließen.“

„Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig“

Die Wunde, die der 19-Jährige mit seinem auf der Flucht von der Polizei erschossenen Bruder Tamerlan (26) Boston geschlagen hat, klafft tief. Doppelt bei Robert Goodman. Am Montag sitzt der 54-Jährige an der Boylston Street in einem Straßencafé und sieht den Marathonläufern auf der Zielgeraden zu. Dann, direkt vor ihm, explodiert die Bombe. Die berstende Fensterscheibe hält die Wucht ab. Goodman kommt mit dem Schrecken davon, sieht Verletzte und Körperteile. Es kommt noch schlimmer. Goodman lebt in Watertown. Direkt neben Bootsbesitzer Henneberry. „Den Freitag über durfte ich das Haus nicht verlassen, fühlte mich wie ein Tier im Käfig“, sagt er, „so große Angst hatte ich noch nie.“ Die Scharfschützen, die Hubschrauber, die Schüsse und Explosionen, bis nebenan Dschochar Zarnajew festgesetzt war – Goodman hat alles hautnah mitbekommen.

Spurensuche in der Norfolk Street im Stadtteil Cambridge. Hier haben die Zarnajews gewohnt, nachdem die Familie 2002 aus den einstigen Sowjet-Republiken Kirgistan und Dagestan als Flüchtlinge nach Amerika gekommen war. Tamerlan, sein jüngerer Bruder Dschochar, die Schwestern Alina und Bella. Vater Anzor, ein ehemaliger Richter, der sich später als Automechaniker verdingte. Mutter Zubeidate, Kosmetikerin.

Vor Haus Nr. 410 stehen Reporter aus aller Welt Schlange

Das Haus Nr. 410 wirkt schäbig. Vor der Tür von Nachbar Matt Stuber stehen Reporter aus aller Welt Schlange. Der 29-Jährige ist genervt: „Ich kannte die Familie nicht gut. Die Brüder sind vor langer Zeit ausgezogen, der Vater zurück nach Russland gegangen.“

Inzwischen wird das Mosaik, das die Fahnder zusammenfügen, detaillierter. Danach hatte sich Tamerlan in den letzten drei Jahren stark verändert: Vom Studenten der Betriebswirtschaft und bewunderten Amateur-Boxer zum fünf Mal am Tag betenden, Alkohol und andere Vergnügungen kategorisch ablehnenden Muslim, der zwischen sich und Amerika einen immer höheren Wall zieht.

Von Ehefrau Katherine und seiner Tochter Zahara (3) lebte er getrennt. Nahmen ihn Kollegen auf den Arm, weil er sich einen Mullah-Bart stehen ließ, konterte er gereizt: „Warum machst du dich über meine Religion lustig?“ Einmal sagt er einem Fotografen, der seine Boxer-Karriere festhalten will: „Habe keinen einzigen amerikanischen Freund. Ich verstehe sie nicht.“

Dschochar war Vorzeigeschüler – dann kam der Einbruch

Sein Bruder Dschochar, mit neun Jahren in die USA gekommen, war von außen betrachtet ein Vorzeige-Einwandererkind. Ringer. Skateboardfahrer. Gut und beliebt in der Schule. Ausgestattet mit einem Begabtenstipendium. Auch hier vor über einem Jahr ein Bruch. Auf der Universität fällt der Junge, der Zahnarzt werden will, durch sieben Kurse. Zuletzt sehen ihn andere Studenten vorzugsweise bei Videospielen. Oder beim Kiffen.

Dschochar tummelte sich im Internet in russischen Sozialnetzwerken, schwadronierte über Werteverfall und lauschte den Tiraden radikaler Islamisten. Ein Eintrag, über ein Jahr alt, bleibt besonders in Erinnerung: „Schon ein Jahrzehnt in Amerika, ich will raus.“