Boston. Auch eine Woche nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon ist das Tatmotiv weiter ungeklärt. Aufschluss über die Beweggründe der Attentäter und mögliche Komplizen erhoffen sich die Ermittler von dem überlebenden mutmaßlichen Bombenleger. Der aus dem Kaukasus stammende Dschochar Zarnajew wurde jedoch bei seiner spektakulären Festnahme so schwer verletzt, dass er bis Sonntag nicht befragt werden konnte.
Auf der Suche nach den Motiven für den Bomben-Anschlag von Boston konzentrieren sich die Ermittlungen der US-Sicherheitsbehörden auf eine auffällige Reise des bei einer Schießerei mit der Polizei ums Leben gekommenen mutmaßlichen Haupt-Attentäters Tamerlan Zarnajew.
Der 26-jährige Student und Amateur-Boxer, vor zehn Jahren mit seinen Eltern aus dem Kaukasus nach Amerika gekommen, hatte 2012 sechs Monate lang in den russischen Krisenrepubliken Dagestan und Tschetchenien verbracht. Fahnder schließen nicht aus, dass sich der zu dieser Zeit bereits strenggläubige und mit Amerika fremdelnde Moslem in islamistischen Kreisen der ehemaligen Sowjetrepubliken ideologisches und technisches Rüstzeug für den Anschlag auf den Marathon-Lauf in der US-Ostküsten-Metropole geholt haben könnte. Dschohar Zarnajew, der jüngere Bruder und Mittäter, könnte von ihm beeinflusst worden sein, vermuten Ermittler.
Bei dem Attentat waren am Montag vor einer Woche drei Menschen getötet und rund 180 teilweise schwer verletzt worden. Derzeit gehen die Behörden davon aus, dass die beiden jungen Männer auf eigene Faust gehandelt haben.
Zarnajew wird in einem schwer bewachten Krankenhaus behandelt
Nach Veröffentlichung von Fahndungsfotos und Videoaufnahmen kam es am späten Donnerstagabend zu einer Verfolgungsjagd mit der Polizei, bei der Tamerlan und ein Sicherheits-Beamter an den Folgen schwerer Schussverletzungen starben. Sein 19-jähriger Bruder Dschohar konnte zunächst fliehen, wurde aber am Freitag bei einem der größten Polizeieinsätze in der jüngeren amerikanischen Geschichte schwer verletzt in einem Vorort von Boston festgenommen. Er hatte sich in einem abgestellten Boot versteckt.
Zarnajew wird in einem schwer bewachten Krankenhaus in Boston behandelt. Sein Zustand ist „ernst aber stabil“, wie der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick, mitteilte. In den nächsten Tagen wird Anklage gegen ihn erhoben; unter anderem wegen mehrfachen Mordes. Über sein gesetzliches verbrieftes Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, soll der mutmaßliche Täter aus Gründen der nationalen Sicherheit vorläufig nicht informiert werden, wie es aus Regierungskreisen heißt.
Republikanische Wortführer im Kongress unterstützen den von Menschenrechts-Organisationen kritisierten Schachzug. Er soll verhindern soll, dass Zarnajew nach der Genesung schweigt. Ginge es nach ihnen, würde der seit 11. September vergangenen Jahres mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft ausgestattete Medizin-Student ähnlich wie die Terrorverdächtigen in Guantanamo als „feindlicher Kombattant“ nach dem Kriegsrecht behandelt.
Ermittler erhoffen sich vom mutmaßlichen Täter Angaben über das Motiv
Sobald Zarnajew vernehmungsfähig ist, erhoffen sich die Ermittler von ihm Angaben über die nach wie vor im Dunkeln liegenden Beweggründe der Brüder. Ihre Gewalttat hat weltweites Entsetzen ausgelöst und in den USA die Angst vor der Rückkehr des Terrors genährt, der das Land am 11. September 2001 erschütterte.
Die getrennt lebenden Eltern des mutmaßlichen Attentäters halten ihre Söhne dagegen für Opfer einer Intrige. Tamerlan Zarnajew war bereits 2011 auf Drängen des russischen Geheimdienstes FSB von amerikanischen Stellen ausgiebig durchleuchtet worden. Die Bundespolizei FBI hielt die Befürchtungen Moskaus seinerzeit für unbegründet, dass sich Zarnajew in der Kaukasus-Republik Tschetchenien dem islamistischen Untergrund zuwenden und gewalttätig werden könnte. Nach seiner Rückkehr aus Russland im Sommer vergangenen Jahres hat das FBI Tamerlan Zarnajew nach eigenen Angaben vom Radarschirm verloren.
Das lief schief bei der Fahndung in Boston
9000 Polizisten im Einsatz, Zug-, Bus- und Flugverkehr eingestellt, Ausgangssperre über mehr als zwöf Stunden für fast eine Million Menschen verhängt - und das alles für einen 19-Jährigen, der bereits schwer angeschossen war? Trotz der ohne weitere Opfer geglückten Festnahme setzte bereits kurz danach in den USA die Debatte über die Verhältnismäßigkeit des Mega-Einsatzes ein. Zumal es am Schluss die Geistesgegenwart eines Anwohners war, die den Ausschlag gab. Und nicht die gigantische Ermittlungsmaschine. David Henneberry hatte ein Loch und Blutflecken an der Abdeckplane des auf einem Nachbargrundstück abgestellten Bootes entdeckt, in dem sich Dschohar Zarnajew versteckt hielt. Erst so kam die Polizei ihm auf die Schliche.
Großfahndung in Boston
Das war nicht die einzige Panne. Versagt haben teilweise etablierte Medien wie auch Nutzer der Internet-Kommunikationsbörsen Facebook und Twitter. Die „New York Post“ brachte Fotos von zwei Verdächtigen aufs das Titelbild, darunter Salah Eddin Barhoum (17), die völlig unschuldig waren. Dutzende Laien-Kommissare hörten zudem während des Einsatzes den Polizeifunk ab und verbreiteten zumeist ohne Gegenprüfung jede noch so kleine oder unwichtige Information. In der heißen Phase des Einsatzes ermahnte die Polizei die Medien mit Nachdruck, die Ermittlungen nicht weiter zu erschweren.
Das für seinen Widerstandsgeist und rauhe Herzlichkeit bekannte Boston feierte die Festnahme des zweiten mutmaßlichen Attentäters wie den Sieg einer Weltmeisterschaft. Jubelnde Menschen gingen am Freitagabend auf die Straßen, schwenkten die Nationalfahne, riefen „Boston strong“ (Boston stark) und sangen ein Loblied auf die Polizei, dem sich Präsident Obama ausdrücklich anschloss.
Am Samstag feierten mehrere zehntausend Zuschauer bei den Baseball-Lokalmatadoren Boston Red Sox nicht nur einen Sieg gegen Kansas - sondern auch lautstark ihre Stadt. Zuschauer, Spieler, Gouverneur und Polizeichef hörten mit feuchten Augen zu, als Neil Diamond (72) live die Hymne des Klubs sang: „Sweet Caroline“.