Washington. . Brüder mit tschetschenisch-kirgisischen Wurzeln, 26 und 19 Jahre alt, halten die Millionenstadt Boston in Atem. Einer der Tatverdächtigen tot. Der andere auf der Flucht. Das öffentliche Leben ist lahmgelegt. Die Polizei durchkämmte Watertown. Die dramatischen Ereignisse im Überblick.
Zwei aus Tschetschenien stammende Brüder haben nach Einschätzung der US-Behörden das Attentat auf den Boston-Marathon verübt. Einer der Tatverdächtigen wurde in der Nacht zum Freitag bei einer Verfolgungsjagd im Bostoner Vorort Watertown getötet. Sein jüngerer Bruder war zunächst weiter auf der Flucht.
Für die Fahndung nach ihm wurde das öffentliche Leben in Boston und den Vororten lahmgelegt. Schwerbewaffnete Polizei durchkämmte Watertown auf der Suche nach dem Flüchtigen. Im Großraum Boston wurden die Menschen aufgerufen, zu Hause zu bleiben.
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Bei den Tatverdächtigen handelt es sich um Tamerlan Zarnajew (26) und seinen Bruder Dschochar A. Zarnajew (19). In Sicherheitskreisen vermutet man, dass das Attentat, bei dem am Montag drei Menschen getötet und 176 zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, einen islamistischen Hintergrund habe. Der 19-Jährige stellt sich im Internet als gläubiger Muslim dar und hat auf seiner Seite Links zu islamistischen Websites.
"Kein Recht, auf dieser Erde zu leben"
Ruslan Zarni zögerte nicht lange mit der Antwort. „Das sind Verlierer. Ich wünschte, sie hätten nie existiert. Sie haben kein Recht, auf dieser Erde zu leben.“ Der Onkel von Tamerlan und Dschochar Zarnajew kämpfte mit der Wut, als Reporter ihn am Freitag aus dem Bett klingelten. Das Bruderpaar mit tschetschenisch-kirgisischen Wurzeln, 26 und 19 Jahre alt, hält seit Donnerstagabend die Millionenstadt Boston in Atem. Schusswechsel. Explosionen. Mehrere Tote, darunter Tamerlan Zarnajew. Ausnahmezustand. Boston blieb am Freitag über viele Stunden hermetisch abgeriegelt.
Die Polizei jagte mit einem Großaufgebot den jüngeren der beiden Männer. Sie sollen am Montag mit selbstgebastelten Rucksackbomben beim traditionellen Marathonlauf drei Menschen getötet und 180 weitere verletzt haben. Warum, weiß bislang niemand. Das Drama, rekonstruiert auf Basis von Polizeiangaben und US-Medien, die sich in den vergangenen Tagen als seriös erwiesen haben:
Nach weltweiter Veröffentlichung von Fahndungsfotos durch die Bundespolizei FBI am Donnerstagabend setzen sich die in der Nachbarschaft des Marathons – Cambridge – mit Mutter und zwei Schwestern lebenden Täter in Bewegung. Sie versuchen in dem beschaulichen Bostoner Vorort, in dem sie nach ihrer legalen Einreise in die USA vor über zehn Jahren lebten, ein Geschäft auszurauben.
Die Brüder schießen und werfen Sprengsätze auf ihre Verfolger
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Kurz danach fahren sie zu einem der bekanntesten Bildungstempel Amerikas, dem innerstädtisch gelegenen Massachusetts Institute of Technology (MIT). Anwohner beschweren sich über eine Ruhestörung. Die Campus-Polizei wird gerufen, trifft auf die Brüder. Sie schießen einem Beamten in den Kopf, verletzen den anderen schwer, fliehen, bringen einen schwarzen Mercedes zum Stoppen, kidnappen den Wagen und rasen mit dem Fahrer davon. Wenige Meilen weiter, in Watertown, lassen sie den Besitzer an einer Tankstelle frei.
Inzwischen ist ihnen die Polizei mit einem Großaufgebot auf den Fersen. Die Situation eskaliert. Die schwer bewaffneten Brüder schießen, werfen Sprengsätze auf ihre Verfolger. Die Antwort: massivste Gewalt. Nachbarn werden aus dem Schlaf gerissen, berichten später von 50, 60, 70 Schüssen. Dabei wird Tamerlan Zarnajew von Kugeln durchsiebt. Er trägt Sprengstoff am Körper und einen Zündmechanismus, verlässt das Auto und wird von seinem eigenen Bruder überrollt. Tamerlan stirbt im Krankenhaus. Der behandelnde Arzt Dr. David Schoenfeld sagt hinter vorgehaltener Hand: „Wir konnten die Einschusslöcher nicht zählen, so viele waren es.“ Auf Seiten der Polizei stirbt Officer Sean Collier (26).
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Dschochar Zarnajew, auf den Fahndungsbildern an der verkehrt herum getragenen weißen Baseballkappe zu erkennen, flieht. FBI und lokale Polizei lösen Großfahndung aus und räumen die Straßen. Über Radio und Fernsehen wird die Bevölkerung gewarnt: „Gehen Sie nicht nach draußen!“ Schulen und öffentlicher Nahverkehr stehen still. Später auch alle Flüge über Boston und der Zugverkehr in der Region. Gegen 8 Uhr dehnt Gouverneur Deval Patrick die Ausgangssperre auf ganz Boston und angrenzende Ortschaften aus; ein Großraum mit über einer Million Menschen.
Die größte Polizeiaktion seit dem 11. September 2001
Beamte sprechen von der größten Polizeiaktion in Amerika seit dem 11. September 2001. Fahnder glauben, dass der junge Mann ebenfalls mit Sprengstoff hantiert und „großes Leid anrichten kann“. Nach dem Blutbad am Ziel des Marathonlaufs will niemand Risiken eingehen.
Andererseits, so ein FBI-Experte, soll Dschochar lebend gefasst werden. „Sonst erfahren wir vielleicht nie die Hintergründe.“ Szenen vom Einsatz erinnern an Krieg. Nationalgarde mit Panzerfahrzeugen. Scharfschützen auf Dächern. Überall Polizisten in Kampfmontur. Bomben-Detektoren auf der Veranda. Hinter den Gardinen verängstigte Bostonians, denen mit Lautsprecherdurchsagen eingebläut wird: „Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir schießen.“
Über die Brüder sickern immer mehr Details durch, offiziell unbestätigt. Tamerlan kam vor über zehn Jahren als Flüchtling in die USA. Er studierte zuletzt am „Bunker Hill Community College“ in Boston. Berufsziel: Ingenieur. Der schwarzhaarige, schlanke Mann galt als talentierter Boxer, wie Fotos belegen.
Großfahndung in Boston
Er wollte sich über sportliche Leistungen die US-Staatsbürgerschaft erkämpfen. Solange Tschetschenien nicht unabhängig von Russland ist, sagte er dem Fotografen Johannes Hirn, würde er eher für Amerika kämpfen als für seine Heimat. Tamerlan war Muslim, verabscheute Alkohol und fühlte sich offenbar vollkommen isoliert: „Ich habe keinen einzigen amerikanischen Freund. Ich verstehe sie nicht.“ Auf seiner Amazon-Wunschliste stehen seltsame Bücher: „Passfälscher-Techniken aus dem Untergrund“ und „Organisierte Kriminalität: Ein Insider-Ratgeber in die weltweit erfolgreichste Industrie.“
Ein Onkel der Verdächtigen glaubt nicht an die Islamisten-Theorie
Über seinen Bruder Dschochar wird bekannt, dass er ein „beliebter Ringer“ ist. Mitschüler der renommierten „Cambridge Rindge and Latin Highschool“, für die der junge Mann von der Stadt ein Stipendium von 2500 Dollar bekommen hat, beschreiben ihn als „sanft, in sich gekehrt und sehr hübsch.“ Er studierte zuletzt an der südlich von Boston gelegenen Dartmouth. Dschochars Twitter-Konto offenbart einen Fußball-Fan.
Er schreibt über Wayne Rooney, Cristiano Ronaldo und Messi. Belastbare Hinweise auf eine Radikalisierung durch islamistische Kreise – abgesehen von einigen Videos: Fehlanzeige.
Onkel Ruslan, der in einem Vorort von Washington lebt und seine Verwandtschaft jahrelang nicht gesehen haben will, versucht die Islamisten-Theorie im Keim zu ersticken. „Sie haben ihr Leben einfach nicht auf die Reihe gekriegt“, sagt er den Reportern. „Sie haben Schande über die Tschetschenen gebracht. Dschochar soll sich ergeben, um Vergebung bitten und sich seiner gerechten Strafe stellen.“