Sofia. . Seit der 40-jährige Todor sich am Mittwochabend mit Benzin übergoss und anzündete, ringt er in einer Klinik in Warna mit dem Tode. Der Arbeitslose aus dem Dorf Sitowo ist schon der sechste Bulgare, der innerhalb eines Monats den grausamen Freitod wählte. Die orthodoxe Kirche appelliert, an die Bürger, sich nicht das Leben zu nehmen.

Seit der 40-jährige Todor sich am Mittwochabend mit Benzin übergoss und anzündete, ringt er in einer Klinik in Warna mit dem Tode. Der Arbeitslose aus dem Dorf Sitowo ist schon der sechste Bulgare, der innerhalb eines Monats den grausamen Freitod wählte. „Er konnte seiner Tochter kein Brot mehr kaufen“, sagt seine behandelnde Ärztin, die ihn bei der Aufnahme noch bei Bewusstsein erlebte. Erst am Montag hatte sich in Sofia ein 59-Jähriger vor den Augen seines Sohnes selbst in Brand gesetzt. Die orthodoxe Kirche appelliert, an die Bürger, sich nicht das Leben zu nehmen. Gesundheitsminister Nikolaj Petrow hat jetzt angeordnet, dass ambulante Teams Suizidgefährdete aufsuchen und betreuen sollen.

Fast 50 Prozent von Armut bedroht

Sie haben viel zu tun: Verzweiflung und Ausweglosigkeit machen sich rapide breit. Bulgarien ist das ärmste Land der Europäischen Union, die Wirtschaftsleistung liegt unter der afrikanischer Länder wie Gabun oder Äquatorial-Guinea. Am kärglichen Reichtum des Landes haben die Ärmsten hier besonders wenig Anteil. Den Durchschnittslohn von 380 Euro im Monat erreicht nur eine Minderheit; die Gehälter in der Textilindustrie und auf dem Bau liegen mit um die hundert Euro noch unter der Armutsgrenze. Ein Drittel aller Beschäftigten kann von seinem Arbeitseinkommen nicht leben. Nach den Zahlen der Weltbank liegt der Anteil der Bulgaren, die von Armut oder sozialer Ausschließung bedroht sind, bei 49 Prozent.

Als in den Zweitausenderjahren die Wirtschaft rasch wuchs, kam unten so gut wie nichts davon an. Vor allem die Pharma- und die Tabakindustrie konnten ihre Produktivität steigern, gaben den Vorteil aber nicht an die Arbeitnehmer weiter. Die Erzförderung nahm erst im letzten Jahr um stolze 17 Prozent zu. „Die Erzeuger haben daraufhin 6,4 Prozent mehr Leute eingestellt“, sagt Plamen Dimitrow, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Citub, „aber die Reallohnsteigerung lag gerade mal bei 2,9 Prozent“.

Ein Paar mit zwei Kindern braucht zum Leben nach einer Untersuchung des Gewerkschaftsbundes KNSB heute etwas mehr als tausend Euro zum Leben. Auf den Betrag kommen nur elf Prozent der bulgarischen Familien; das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt bei um die 450 Euro. Eine Welle von Preissteigerungen im vorigen Frühjahr gab vielen den Rest: Speiseöl, Kleidung, Schuhe und Gesundheitsleistungen wurden teurer, der Strom sogar um 13 Prozent.

Lebensmittel sind der größte Ausgabeposten; zwei Drittel aller Bulgaren sind auf den eigenen Garten und eigenes Vieh angewiesen. An zweiter Stelle kommt schon die Energie: In ärmeren städtischen Haushalten macht die Stromrechnung nicht selten mehr als die Hälfte des Einkommens aus, im Winter noch mehr. Dabei sind die Strompreise reguliert. Schlechte Isolierung und enorme Leitungsverluste treiben die Ausgaben in die Höhe. Für Kleidung, Schuhe, Reisen bleibt immer weniger übrig. Nur der Konsum von Alkohol und Zigaretten steigt leicht – ein Stresszeichen.

Die landesweiten Durchschnittszahlen geben aber nur einen geschönten Blick auf das Elend frei. Deutlich mehr als die Hälfte des Sozialprodukts wird inzwischen rund um die Hauptstadt Sofia erwirtschaftet. Der verarmte Nordosten trägt nur mit sieben Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. In der Region liegt auch Sitovo, der Heimatort des 41-jährigen Todor, der sich am Mittwoch angezündet hat.

Die Jungen wandern aus

Nach Sofia umziehen können die Menschen aus dem Osten und dem kaum weniger armen Norden nicht: In der Hauptstadt gibt es kaum einen Mietwohnungsmarkt, und mangels bezahlbarem öffentlichen Nahverkehrs ist auch die nahe Hafenstadt Warna für Arbeitssuchende unerreichbar. Junge, gut Ausgebildete wandern aus, die meisten nach Spanien. Unter den Armen wandern vor allem Roma aus, die meistens auch kein Wohnungseigentum haben.

Die wütenden Demonstranten, die Ende Februar die Regierung unter Premier Boris Borissow zu Fall brachten, machen vor allem die harte Sparpolitik für das Elend verantwortlich. Bei sinkenden Reallöhnen stieg die Arbeitslosigkeit trotz anhaltender Auswanderung auf 12 Prozent. Kein EU-Land hat eine so niedrige Investitionsrate wie Bulgarien.