Essen. Erst kürzlich hatte NRW-Verkehrsminister Michael Groschek einen nationalen Bahngipfel zu Stuttgart 21 gefordert. Der Neubau entwickle sich zum „Fass ohne Boden“. Jetzt macht sich in der Politik langsam die Erkenntnis breit, dass die Kostensteigerung um zwei Milliarden Euro seit 2008 absehbar war.

Stuttgart 21 wird zum Wahlkampfthema. Der Bahnhof wird mindestens zwei Milliarden Euro mehr kosten als zunächst verkündet – zu Lasten anderer Bahnbauten, auch an Rhein und Ruhr. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) droht gar, die Bahn müsse wegen Stuttgart die Fahrpreise erhöhen. Doch jetzt kommt heraus: Die „Kostenexplosion“ hat viele überhaupt nicht überrascht.

Zwei Minister und zahlreiche Parlamentarier haben vom drohenden Debakel schon vor über vier Jahren gewusst – also mindestens fünf Monate vor dem Vertragsabschluss im März 2009. Die Politik hat damals gegen das eigene bes­sere Wissen entschieden, den Wählern lediglich Projektkosten von 3,076 Milliarden Euro zu nennen.

Dabei lag ihr nicht nur ein elf­seitiges detailliertes Gutachten des Bundesrechnungshofes vor. Das listete statt dessen Gesamtkosten von 5,3 Milliarden Euro auf. Es gab auch interne Warnungen des Verkehrsministeriums vor der Kostenentwicklung bei Großprojekten.

Interview gab den Anstoß

Im Bundestag werden derzeit dazu viele Fragen gestellt. Anstoß ist ein Interview dieser Zeitung mit dem Chef des Rechnungshofes, Dieter Engels. Am 28. Februar hatte Engels gesagt: „Bei Stuttgart 21 haben wir 2008 unsere Prognose von ­mindestens 5,3 Milliarden Euro … im Wesentlichen auf Erkenntnisse gestützt, die auch dem Bundes­verkehrsministerium vorlagen.“

Tatsächlich führt die Spur dann nicht nur in das damalige Bundesverkehrsministerium unter Wolfgang Tiefensee (SPD), das weit vor Vertragsabschluss von den Horror-Zahlen wusste. Auch das Bundes­finanzministerium kannte sie. Hausherr war Peer Steinbrück, heute SPD-Kanzlerkandidat.

Der Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst (Linke) hat die Regierung nach den Vorgängen im Herbst 2008 gefragt. Er hat jetzt Antworten bekommen: Dem Verkehrsministerium sei „mit Schreiben des Bundesrechnungshofes vom 27.10.2008 der Bericht über die Projekte Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ... vorgelegt“ worden. Und: „Das Bundesministerium der Finanzen hat am 31. Oktober 2008 von einem Entwurf des Berichts Kenntnis erhalten.“ Und: Keine fünf Tage später hatten die Ausschüsse für Verkehr und Haushalt das Papier.

Regelmäßig Preissteigerungen um bis zu 60 Prozent

Wie die Minister vor ihnen, konnten die Abgeordneten darin damals solche Sätze lesen: „Der Bundesrechnungshof kritisiert, dass die Kosten für das Projekt bisher falsch eingeschätzt wurden.“ „Der Bund ist haushaltsrechtlich nicht ermächtigt, für das Vorhaben eine Finanzierungsvereinbarung abzuschließen“. „Die Gesamtfinanzierung ist nicht sichergestellt.“

Auch interessant

Fast ironisch machten die Prüfer auf ein internes Gutachten des Verkehrsministeriums aufmerksam, Drucksache 16/4474. Danach seien Projekte mit „großem Tunnel- und hohem Kupfer- und Stahlanteil“ regelmäßig Preissteigerungen von bis zu 60 Prozent ausgesetzt. Bei komplexen Großvorhaben ­beobachte das Ministerium „Preissteigerungen von bis zu 100 Prozent“. Es war passgenau das Profil der künftigen Baustelle im Süden.

Es war die Zeit der Bankenkrise

Aufgrund der „Erkenntnisse des Bundesministeriums“ errechneten sich die Projektkosten am Ende auf „deutlich über 5,300 Milliarden“ Euro, fasste der Rechnungshof ­zusammen. Davon seien nur 2,8 Milliarden plus Risikoabsicherung von 1,320 Milliarden abgedeckt. Ein Satz. Die Bankrotterklärung.

Es waren bewegte Wochen im Herbst 2008. Die Bankenkrise erforderte schnelles Regierungshandeln. Kanzlerin und Finanzminister schaufelten noch ganz andere Milliardenmengen durch die Gegend. Sie standen vor den Kameras und erklärten die Sparguthaben der Bürger für sicher. Stuttgart 21 wurde zu einem flüchtigen Durchlaufposten des Politikbetriebs.

Keiner zog die Notbremse.