Peking. Mitten in einer Wirtschaftskrise hat China einen neuen Ministerpräsidenten bekommen. Als erster Ökonom mit Doktortitel übernimmt Li Keqiang die chinesische Regierung. Er gilt als vorsichtig, nicht als mutiger Reformer. Das Milliardenvolk erwartet Wachstum und soziale Gerechtigkeit von ihm.

Die schwierige Aufgabe scheint ihm bewusst. Ernst nimmt Li Keqiang die Ernennung durch den Volkskongress entgegen. Nur langsam erhebt sich der neue Regierungschef des Milliardenvolkes von seinem Sitz auf dem Podium mit den roten Fahnen und dem rot-goldenen Staatswappen. Er verbeugt sich respektvoll. Stürmisch klatschen die knapp 3000 Delegierten in der Großen Halle des Volkes. Erst für die Kameras setzt der 57-Jährige doch noch ein Lächeln auf, als ihm der neue chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping gratuliert.

Es ist der letzte Höhepunkt des Generationswechsels an der Spitze von Staat, Partei und Regierung. Die Erwartungen an den neuen Premier sind groß. Der Volksmund scherzt mit seinem Namen, der im Chinesischen anders betont "sofort stark werden" (like qiang) bedeuten kann. Über die nächsten zehn Jahre soll Li Keqiang die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt führen. Das Ziel ist die Erfüllung des "chinesischen Traums": Ein starkes, wohlhabendes China.

Li Keqiang soll die lahmende Wirtschaft in Schwung bringen

Der erste promovierte Ökonom an der Spitze der chinesischen Regierung übernimmt das Steuer ausgerechnet in einem Moment, in dem die Wachstumslokomotive an Dampf verliert und so langsam vorankommt wie seit 13 Jahren nicht mehr. Die Gefahr sozialer Spannungen wächst. Die extreme Kluft zwischen Arm und Reich muss verringert werden. Li Keqiang muss das Reich der Mitte von einem blinden zu einem nachhaltigen Wachstum führen. Weniger Exporte und Investitionen sollen die Wirtschaft antreiben, sondern heimischer Konsum.

"Reform heißt gegen den Strom rudern", sagt Li Keqiang. "Wenn wir nicht vorankommen, fallen wir zurück." Doch der neue Premier gilt keineswegs als mutiger Reformer. "Er ist eher ein Akademiker-Typ mit Fachwissen in Recht und Wirtschaft", sagt der Politikwissenschaftler Wu Qiang von der renommierten Qinghua Universität in Peking. Westliche Diplomaten beschreiben Li Keqiang vor allem als charmanten, gebildeten und schlauen Politiker mit guten Englischkenntnissen. "Wir sind beeindruckt", sagt ein europäischer Botschafter.

Neuer Regierungschef Chinas ist ein Ziehkind Hu Jintaos

Sein Aufstieg an die Spitze begann gleichwohl mit einem Fehlstart. Der bisherige Staats- und Parteichefs Hu Jintao (69) hatte seinen Schützling ursprünglich vor dem Parteitag 2007 zum "starken Mann" machen wollen. Das Vorhaben scheiterte an der Shanghai-Fraktion um seinen mächtigen 86-jährigen Vorgänger Jiang Zemin, der wiederum Xi Jinping zum neuen Führer aufbaute. Li Keqiang wurde Nummer Zwei. Doch Rivalitäten mit Xi Jinping sind nicht erkennbar. "Li Keqiang wird den gleichen Weg verfolgen", sagt der kritische Kommentator Li Weidong.

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"Sein Stil ist behutsam wie der seines Vorgängers, aber er ist zäher." In Wirtschaftsfragen sei "Opa Wen" ohnehin nie sonderlich bewandert gewesen, so dass Li Keqiang bessere Arbeit leisten dürfte, glaubt Li Weidong. "Er hat viel über Wirtschaft gelernt, besitzt praktische Erfahrungen, versteht durch seine Sprachkenntnisse die internationale Sicht und ist ein guter Manager."

Li Keqiang las schon als Kind "Die Kunst des Krieges"

Als Sohn eines Funktionärs wurde Li Keqiang am 1. Juli 1955 in Dingyuan in der armen Provinz Anhui geboren. Ein Lehrer erzählt der "South China Morning Post", schon in der Grundschule habe Li Keqiang den Strategie-Klassiker "Die Kunst des Krieges" von Sunzi gelesen. Wie andere junge Intellektuelle musste Li Keqiang 1974 in der Schlussphase der Kulturrevolution aufs Land. Er wurde 1976 Mitglied der Partei. Als einer von nur drei Prozent, die die Aufnahmeprüfung schafften, studierte er Jura an der Peking Universität und promovierte in Wirtschaftswissenschaften.

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Zu seinen Freunden damals gehörten auch kritische Köpfe, die später Dissidenten wurden. Der heute exilierte Wang Juntao beschrieb ihn einst als "schlauen Kopf mit spitzer Zunge". Er sei zwar ein "unabhängiger Denker" gewesen, habe aber Autoritäten nie herausgefordert und Karriere machen wollen. Li Keqiang folgte auch dem Rat des Vizeparteichefs der Universität, nicht wie andere ins Ausland zu gehen, und wurde Jugendliga-Vorsitzender der Hochschule.

Chinas Regierungschef soll Aids-Skandal vertuscht haben

In der Jugendliga arbeitete Li Keqiang schon 1983 direkt unter seinem späteren Förderer Hu Jintao. Er stieg 1998 zum Vizegouverneur der Provinz Henan auf, ein halbes Jahr später sogar zum Gouverneur. Er war mit 44 Jahren der jüngste und der erste mit einem Doktortitel. Ein dunkler Fleck in seiner Karriere ist allerdings der Aids-Skandal in Henan. Durch unhygienische Blutspenden hatten sich dort in den 90er Jahren viele Menschen infiziert. Kritiker machen Li Keqiang für die Vertuschung des Skandals mitverantwortlich. (dpa)