Essen. . Als einziger Gast lässt sich Kanzlerkandidat Peer Steinbrück 75 Minuten zur Agenda 2010, zu Mindestlohn und Steuererhöhungen befragen. Zeit für persönliche Rechtfertigungen hat er obendrein. Anne Will bringt den Klartext-Redner mit einem Schalke-Schal-Foto ganz schön in Verlegenheit.

Die Augen Rot, die Nase dick, die Stimme belegt: Nein, dem Kanzlerkandidaten der SPD geht es gar nicht gut, als er im Schatten des neuen Papstes Franziskus am Mittwoch 75 Minuten lang Anne Will Rede und Antwort stehen muss. Doch er scherzt, werde ihr nicht zu nah kommen, Will verspricht, „wir küssen nicht“ – das war es dann aber auch schon mit dem Geplänkel. Zunächst ist das Zwiegespräch eine gute Wahl, um nach einem aufregenden Tag das Adrenalin abfließen zu lassen und sich entspannt schlafen zu legen, mag der Zuschauer in den ersten Minuten denken – und abschalten.

Wer dabeibleibt, wird mit einem durchaus einen launigen und informativen Abend belohnt. Steinbrück ist hellwach, aufgeräumt, wie gewohnt witzig. Die Moderatorin beschränkt sich nicht nur aufs Provozieren, sondern beherrscht auch die Kunst, die schlagfertige Abwehr-, Rechtfertigungs- und Schuldzuweisungsmechanismen des Kandidaten zu kontern.

Natürlich ist so eine Sendung erst einmal eine Plattform für den so viel gescholtenen Kandidaten. So hat er jede Menge Zeit, sich zu wundern, warum sich die Medien mehr für das Hotel samt Limousinen davor interessieren als für die Inhalte seiner Reden. Allerdings klingt das durchaus scheinheilig für einen alten Politikhasen wie ihn, den ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten. Hat er immer noch nicht verstanden, wie die Medien funktionieren?

„Ich bin eben kein rundgeschliffener Kieselstein“

Wie gewöhnlich gibt er zu, Fehler gemacht zu haben. „Ich bin eben kein rundgeschliffener Kieselstein“, erklärt er seinen Hang, in Fettnäpfchen zu treten. Wobei: Den Begriff mag er gar nicht. „Einige nennen es Fettnäpfchen“, sagt er. Andere freuten sich, das endlich auch mal Klartext geredet werde in einer ansonsten politischen Welt, in der es meist heiße: „Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis.“ Das Publikum johlt, Will mindert die Stimmung: „Diesen Satz sagen Sie immer, er ist aber auch ein Guter“.

Schalke-Schal erzürnt BVB-Fans 

Steinbrück versteht sich als Klartext-Mann und will sich so von einer Amtsinhaberin abgrenzen, deren Kunst es sei, sagt der Kanzlerkandidat, Themen wie Lohnuntergrenze, gleiche Bezahlung von Frauen oder die Zukunft der Pflegeversicherung mit schwammigen Äußerungen zu begegnen.

„Es wird keine Massenentlassungen geben“

Tatsächlich redet er eine Menge über Inhalte seiner künftigen Politik. Mindestlohn von 8,50, sagt er erneut, komme sofort, wenn er Kanzler sei. Die eingespielten Warnungen vor Massenentlassungen des Direktors des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, wischt er beiseite. „Dass sie den einspielen“, attackiert er die Moderatorin, „darauf hätte ich eine Wette abgegeben – wir müssen in einer Sendung ja nicht WILLkürlich sein“. Dem erneut aufjohlenden Publikum ruft er zu: „Es wird keine Massenentlassungen geben“.

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Mantrartig erklärt er nun, warum die gesamtgesellschaftliche Wirkung des Mindestlohns wichtiger sei als die Gefühle der Friseurmeisterin, die womöglich Personal abbauen oder gleich den Laden dichtmachen müsse – ebenso wie er beteuert, die von der SPD geplanten Steuererhöhungen träfen nur die oberen zwei Zehntel der Reichen, nicht die Mittelschicht. Wieder kontert Anne Will mit einer Einspielung. Diesmal ist es der Chef des Steuerzahlerbundes, Reiner Holznagel, der von einem Rot-Grünen Schreckensszenario aus der Sicht der Steuerzahler spricht.

„Wir müssen Geld in die Hand nehmen“

„Das war ja ein neutraler Beitrag“, lästert er ironisch in Richtung Anne Will. Ab wann man Steuern zahlen müsse, fragt die kritisierte Moderatorin. Steinbrück: „Kann ich erst sagen, wenn ich gewählt bin. Von den anderen bekommen Sie auch nichts Konkretes“. Will: „Aber sie wollen doch Klartext reden“. Steinbrück antwortet mit gewohnter Maschinengewehr-Rhetorik, die ihm immer das letzte Wort lässt, warum Deutschland trotz sprudelnder Steuereinnahmen mehr Geld einnehmen müsse. Seine Schlagwörter: Schuldenbremse, unterfinanziertes Bildungssystem, die marode Finanzlage der Kommunen, die nötigen Investitionen in Infrastruktur und Logistik: „Wir müssen Geld in die Hand nehmen, Sparen ist allenfalls im öffentlichen Dienst möglich“.

Ach ja, und die Agenda 2010, die seine eigene Partei wohl nicht verstanden hat: Sie zeige die Reformfähigkeit des Landes. „Ich halte sie für richtig“, sagt er, nun durchaus im Steinbrück-Klartext-Stil. Deutschland sei dadurch „wie Alice im Wunderland aus der Eurokrise herausgekommen“. Das Dilemma, dass die SPD-Wähler dieses Wundermittel nicht mögen – für ihn ist es keines. Begründung? Siehe oben.

"Aber das Foto ist echt"

Gar nicht witzig fand Steinbrück, der im BVB-Aufsichtsrat sitzt, die Idee der Redaktion, ein altes Foto von ihm mit Schalke-Schal vor dem Stadion herum zu zeigen. Dabei war der Film über die Aktion mit den gröhlenden, pöbelnden, Bier trinkenden Fans durchaus amüsant. "Bevor der Kanzler wird, wird Schalke deutscher Meister", sagt einer. Steinbrück erklärt, das Foto sei zehn Jahre alt. Es zeige ihn als Ministerpräsidenten von NRW. Da habe er sich nicht nur zu einem Verein bekennen können. Heute sei das anders. Überhaupt gehe es nicht, den Eindruck herzustellen, das Bild sei aktuell. Anne Will lächelt breit: Das Foto sei schließlich echt. dagegen könne er nichts sagen.

Noch was Launiges zum Schluss: „Der Job im Vatikan ist weg“, lockt Anne Will. Na ja, sagt Steinbrück. Er werde nun auf den 22. September warten, „wenn über dem Willy-Brandt-Haus weißer Rauch aufsteigt“. Mal Klartext gesprochen: Kalauern kann er, der Kanzlerkandidat.