Zehn Jahre nach der Verkündung der umstrittenen Agenda 2010 fordern Ökonomen und Politiker neue Reformen im deutschen Sozialsystem. “Deutschland ruht sich auf seinem wirtschaftlichen Erfolg aus. Das ist brandgefährlich und wird uns in spätestens fünf Jahren vor die Füße fallen, wenn das demografische Chaos ausbricht“, sagte der Direktor des Instituts der Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann.

Berlin (dapd). Zehn Jahre nach der Verkündung der umstrittenen Agenda 2010 fordern Ökonomen und Politiker neue Reformen im deutschen Sozialsystem. "Deutschland ruht sich auf seinem wirtschaftlichen Erfolg aus. Das ist brandgefährlich und wird uns in spätestens fünf Jahren vor die Füße fallen, wenn das demografische Chaos ausbricht", sagte der Direktor des Instituts der Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann, der "Welt am Sonntag". Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) fordert in der "Bild-Zeitung" eine Agenda 2020.

Der "Wirtschaftsweise" Christoph Schmidt sieht eine Dekade nach Einführung der Agenda 2010 eine Reformmüdigkeit in Deutschland. "Das Bewusstsein, dass es auch nach der Agenda 2010 noch einen großen Reformbedarf gibt, scheint in der Politik mehr und mehr abhandenzukommen", sagte der Chef des Wirtschafts-Sachverständigenrats der "Welt am Sonntag". IZA-Chef Zimmermann sieht ebenfalls noch viele unerledigte Aufgaben. Im Gesundheits- und Pflegesystem bestehe genauso Reformbedarf wie bei der Rente. "Die Rente mit 70 ist unabdingbar."

Die Ökonomen fordern deshalb eine Weiterentwicklung der Agenda-Reformen. Schmidt mahnte eine Lockerung des Kündigungsschutzes an. Um die Ausgaben der Krankenkassen im Griff zu behalten, schlägt er eine Beteiligung der Patienten an den Kosten bis zu einem festzulegenden Höchstbeitrag vor.

Der frühere Bundeskanzler Schröder sieht die Notwendigkeit einer neuen Agenda 2020. "Deutschland kann seinen Vorsprung gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien und China nur verteidigen, wenn wir hart an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten", sagte er der "Bild"-Zeitung (Montagausgabe). Nur wenn dies gelinge, gebe es "genug Arbeit, können Renten bezahlt werden, kann es gute Schulen und Straßen geben". Als wichtigste Vorhaben nannte Schröder Investitionen in Forschung und Bildung. Wegen des demografischen Wandels seien gute Bildung und Betreuung wichtig.

Spitzenpolitiker der SPD verteidigten die umstrittenen Reformen der Agenda 2010. Nach Auffassung von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier bewahrten sie Deutschland vor einem wirtschaftlichen Niedergang. "Wenn Schröder damals so mutlos regiert hätte wie Angela Merkel (CDU) heute, stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Eurokrise", sagte Steinmeier der "Süddeutschen Zeitung".

Steinmeier, damals in Schröders Kabinett Kanzleramtschef, nannte die Agenda einen "Ausbruch aus der Abwärtsspirale", in der sich Deutschland vor zehn Jahren befunden habe. In der "Super-Illu" erinnerte er daran, dass die Durchsetzung der Reformen "ein gewaltiger Kraftakt" gewesen sei. "Es war ein Programm mit Härten für die Menschen, das ist wahr. Aber rückblickend sage ich: Gott sei Dank haben wir unsere Hausaufgaben gemacht, bevor die große Krise kam."

Der Fraktionsvorsitzende räumte ein, dass die Agenda auch zu Auswüchsen geführt habe. Die Leiharbeit bezeichnete er zwar als notwendig. Man habe sich allerdings "nicht vorstellen können, dass einzelne Unternehmen große Teile ihrer Stammbelegschaften durch Leiharbeiter ersetzen". Das müsse korrigiert werden. Zudem wäre es besser gewesen, wenn man parallel zu den Arbeitsmarktreformen einen Mindestlohn eingeführt hätte.

"Die Agenda 2010 war sehr erfolgreich, aber es wird zehn Jahre nach ihrer Ankündigung immer noch viel Falsches darüber erzählt", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel dem "Focus". Die Agenda habe das erste Ganztagsschulprogramm gestartet, den Durchmarsch der erneuerbaren Energien ermöglicht und das System von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt. "Diese ganzen Reformen waren richtig", betonte Gabriel. Die rot-grüne Regierung habe "damit den Industriestandort Deutschland gestärkt".

Die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, kritisierte dagegen die Agenda 2010 scharf. Die Agenda habe viele Menschen in die Armut gestürzt und die Ausbeutung von Millionen Arbeitnehmern ermöglicht. Steinmeiers Kritik an Merkel, im Vergleich zu Schröder mutlos zu regieren, sei mit einer "Sehnsucht nach einer großen Koalition zur Zerstörung des Sozialstaats" zu erklären.

dapd