Neu Delhi. Sunnitische Extremisten führen inzwischen einen regelrechten Feldzug gegen die schiitische Minderheit in Pakistan. Mit Anschlägen wie nun in Karachi destabilisieren die Terroristen die Atommacht - deren schwache Regierung unfähig ist, die eigenen Bürger zu schützen.

Sonntagabend in der südpakistanischen Hafenstadt Karachi, die Sonne geht unter. Es ist die Zeit des Abendgebets, als 150 Kilogramm Sprengstoff dem Frieden ein jähes Ende bereiten. Die Autobombe detoniert in einem Schiiten-Viertel auf einer Straße, die auf beiden Seiten von vierstöckigen Appartementhäusern flankiert ist. Die Terroristen müssen gewusst haben, dass sie Kinder, Frauen, ganze Familien auslöschen werden.

Die Wucht der Detonation reißt Balkone und Teile der Fassaden ab. Mehr als 50 Menschen sterben. Wieder sind Schiiten das Ziel des Anschlags. Die Angehörigen der religiösen Minderheit sind ihres Lebens in Pakistan längst nicht mehr sicher.

Gnadenloser und immer blutigerer Feldzug

«Das letzte Jahr war das blutigste Jahr für Pakistans schiitische Gemeinschaft seit Menschengedenken», teilte Human Rights Watch kürzlich mit. Die Menschenrechtsorganisation zählte 2012 mehr als 400 Tote bei gezielten Angriffen auf die schiitische Minderheit, die etwa 20 Prozent der mehr als 180 Millionen Pakistaner ausmacht. Das neue Jahr ist erst gut zwei Monate alt, und die Schiiten haben bereits deutlich mehr als 200 Tote zu beklagen. Bei zwei Anschlägen im Januar und Februar in der südwestpakistanischen Provinzhauptstadt Quetta starben mehr als 175 Menschen.

Zu den beiden Anschlägen in Quetta bekannte sich die sunnitische Terrorgruppe Lashkar-e-Jhangvi (LeJ), die die Polizei nun - neben den ebenfalls sunnitischen Taliban - auch in Karachi verdächtigt. Die «Armee» (Lashkar) hat sich nach dem sunnitischen Anführer Haq Nawaz Jhangvi benannt, den mutmaßlich schiitische Extremisten 1990 ermordet haben sollen. Während schiitische Gruppen in den vergangenen Jahren allerdings nicht mehr durch Militanz aufgefallen sind, führen die LeJ und andere sunnitische Extremisten einen gnadenlosen und immer blutigeren Feldzug gegen ihre schiitischen Mitbürger.

Sunniten gegen Schiiten: Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammed

Sunnitische Extremisten stoppten im vergangenen Jahr im Nordwesten des Landes Busse, zwangen schiitische Reisende zum Aussteigen und erschossen sie. Den schiitischen Trauermonat Muharram verwandeln Terroristen in Pakistan inzwischen regelmäßig in ein Blutbad. 2012 bekannten sich die pakistanischen Taliban (TTP) zu mehreren Anschlägen. Die Angriffe begründete TTP-Sprecher Ehsanullah Ehsan damit, dass der Glaube der Opfer den Propheten Mohammed und den Koran «beleidige». Die Taliban würden die Angriffe «ungeachtet der Sicherheitsmaßnahmen» der Regierung fortsetzen, kündigte er an.

Historisch geht der Konflikt zwischen den beiden größten muslimischen Strömungen auf einen Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammed zurück. Dennoch lebten Sunniten und Schiiten in Pakistan - wie bis heute im benachbarten Afghanistan - nach der Staatsgründung 1947 lange Zeit relativ friedlich miteinander. Erst unter dem sunnitischen Militärdiktator Muhammad Zia ul-Haq, der sich 1977 an die Macht putschte, nahm die Islamisierung Pakistans ihren Lauf. Mit ihm begann auch eine Politik, die extremistische Gruppen für Stellvertreterkriege im benachbarten Ausland mobilisierte.

Schwache Zivilregierung

Zumindest die schwache Zivilregierung der Atommacht hat keine Kontrolle über diese Gruppen, die ihre mörderische Energie nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan zunehmend auf Pakistan selber richteten. Die mächtige pakistanische Armee und ihr Geheimdienst ISI weisen regelmäßig zurück, dass sie verbotene Organisationen wie LeJ tolerieren oder gar für ihre Zwecke instrumentalisieren würden. Dennoch gelingt es nicht, die Gewalt der Sektierer einzudämmen.

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Nach dem Anschlag im Januar in Quetta warf Human Rights Watch (HRW) der Regierung vor, ihr Versagen beim Schutz der Schiiten «kommt einer Mitschuld beim barbarischen Massaker an pakistanischen Bürgern gleich». Der Staat, das Militär und der Sicherheitsapparat müssten sich schwere Vorwürfe gefallen lassen.

Zwar entließ Präsident Asif Ali Zardari danach die Regierung der Provinz Baluchistan. Nach dem Anschlag im Monat darauf ordnete die Zentralregierung zudem eine «gezielte Operation» gegen die Urheber der Gewalt an. Mit dem Blutbad in Karachi zeigten die Extremisten nun allerdings, dass sie sich davon nicht beeindrucken ließen. Die Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) in Islamabad, Britta Petersen, kommt zu dem Schluss: «Sektiererische Gewalt muss als eine neue Strategie gesehen werden, die Schwäche des pakistanischen Staates auszunutzen und diesen weiter zu destabilisieren.» (dpa)