Tunis.
Seit dem Mord an dem Linkspolitiker Chokri Belaid befindet sich Tunesien in schweren Turbulenzen. Auch wenn inzwischen einige Tatverdächtige gefasst wurden, die Kritik an der regierenden Ennahda-Partei der Muslimbrüder wächst, die politischen Spannungen zwischen islamistischem und liberal-säkularem Lager eskalieren. Anfang der Woche trat Ministerpräsident Hamadi Jebali zurück, nachdem er sich mit dem Vorschlag eines überparteilichen Technokratenkabinetts bei den Hardlinern der Muslimbruderschaft mit Parteichef Rached Ghannouchi an der Spitze nicht durchsetzen konnte. Gestern nominierte Ennahda nun den bisherigen Innenminister Ali Larayedh als Nachfolger, den Präsident Moncef Marzouki umgehend mit der Regierungsbildung beauftragte. Der 57-Jährige gilt als ideologisch strikter und charakterlich aus anderem Holz geschnitzt als sein konzilianter Vorgänger.
Unter Diktator Ben Ali saß der gelernte Marine-Ingenieur 15 Jahre im Gefängnis, darunter zehn Jahre in Isolierhaft. Er wurde schwer gefoltert. Bis heute leidet der künftige Premierminister unter schwerem Asthma, das er sich in seiner feuchten Arrestzelle holte. Seine Frau Ouided Lagha erlitt einen Nervenzusammenbrauch, nachdem sie 1999 von Geheimdienstler gekidnappt und gequält worden war. Bei Verhören wurde sie begrapscht und sexuell missbraucht, musste sich nackt ausziehen und von ihren Peinigern filmen lassen.
Nach dem Sturz Ben Alis wurde Ali Larayedh Innenminister in der ersten demokratisch gewählten Regierung Tunesiens und damit der neue Herr über Polizei und Geheimdienst, seine früheren Folterer. Bisher für die innere Sicherheit im Land zuständig, zeichnet er nun künftig für die gesamte Politik Tunesiens verantwortlich. Doch das Vertrauen der Bevölkerung in seine post-revolutionäre Führung hat bereits beträchtlich gelitten. Viele Minister gelten als inkompetent und Fehlbesetzungen, auch an Larayedh gab es harte Kritik. So terrorisierten monatelang salafistische Radikale Andersdenkende, Künstler und Universitätsprofessoren, ohne dass der Innenminister seine Polizei energisch genug dagegen einschreiten ließ.
In Atem gehalten wird das 10-Millionen-Volk auch durch Streiks und gewalttätige Demonstrationen unzufriedener Arbeiter und frustrierter Arbeitsloser. Denn die Wirtschaft kommt einfach nicht in Fahrt. Die Arbeitslosigkeit ist höher als je zuvor, seit dem Sturz von Diktator Ben Ali kletterte sie von 13 auf jetzt 18 Prozent. Vorgänger Hamadi Jebali räumte dann auch in seiner TV-Abschiedsrede ein, gescheitert zu sein und das tunesische Volk enttäuscht zu haben. „Die Tunesier müssen in den kommenden Monaten geduldig sein“, appellierte er. „Alle Forderungen und Sit-ins müssen aufhören, bis die Revolution gesiegt hat.“