Berlin. . Alle hatten von Joachim Gauck eine große Rede zu Europa erwartet. Dann kam er in den Saal und sagte „Guten Morgen“. Und es wurde eine große Rede. Der Präsident wünschte sich mehr Engagement und Zusammenarbeit, auch und gerade mit den Briten.

Alle waren begeistert, wie es heißt: ganz besonders der britische Botschafter. Ein erfahrener Europäer, Günter Verheugen, hatte ­gerade eine „schöne, zusammenführende Rede“ gehört. Der frü­here EU-Kommissar und Journalist brachte Joachim Gaucks Botschaften auf den Punkt. Erstens, verlasst euch auf uns – das ging an die Nachbarn. Zweitens, setzt Europa nicht aufs Spiel – das ging an die Deutschen. Es war gestern seine erste große Grundsatzrede in Schloss Bellevue. Anlass und ­Anliegen des Bundespräsidenten im Überblick:

Angebot und Korrektur

Am Anfang war das Wort, ein allzu flottes Wort. „Wir wollen mehr Europa wagen“, hatte der Präsident kurz nach Amtsantritt gesagt. Gestern bekannte er, „so schnell und so gewiss würde ich es heute nicht mehr formulieren“. Europa brauche „mehr Deutung“ und „mehr Differenzierung“.

Im Sommer hatte er Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aufgefordert, den Bürgern die Politik besser zu erklären, und hinzugefügt: „Da kann ich helfen.“ Gestern war es so weit. Nach der Rede war dem ­Bundespräsidenten seine Erleichterung anzumerken.

Format und Forum

Der Auftritt in Schloss Bellevue war der Auftakt für Diskussions­foren und Symposien, die künftig unter dem Titel „Bellevue Forum“ stattfinden sollen. Sie lösen die Berliner Rede ab, eine kleine Tradition, die Roman Herzog im Jahr 1997 begründet hatte. 2013 ist das Europäische Jahr der Bürger – ein Grund für den Europäer Gauck, eigene Akzente zu setzen. Mitte März ist er ein Jahr im Amt. Seither redete er zu vielen Anlässen. Das gestrige Thema aber war Gaucks ganz persönliches Anliegen.

Kleine Gesten

Gauck betrachtet sich als Präsident der Bürger, nicht der Eliten. Ganz bewusst wurden die Bürger und Berliner bunt gemischt mit den 200 Gästen aus Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft. Die Sitz­ordnung folgte keiner Rangskala. Auffällig: Die große Politik war unterrepräsentiert; dabei waren die Parteichefs eingeladen.

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Gauck selbst tat alles, um dem Auftritt die zeremonielle Schwere zu nehmen. Er betrat den weißen Saal mit einem schlichten „Guten Morgen“ und verließ ihn nach gut 50 Minuten ohne Umschweife. Später, bei einem Empfang nach der Ansprache, unterhielt er sich mit seinen Gästen.

Keine Schönfärberei

Gauck weiß es, hört und liest es ­jeden Tag: Die Euro-Krise hat mehr als eine wirtschaftliche Dimension. „Sie ist auch eine Krise des Vertrauens.“ Er stellte ein Unbe­hagen fest, „auch deutlichen ­Unmut“. Er verschloss auch nicht seine Augen vor den Konstruktionsfehlern der EU. Sie ist in ­Hau-Ruck-Manier forciert worden, so dass politische und wirtschaft­liche Integration nicht immer Schritt hielten. Der Euro blieb als Währung ohne eine finanzpolitische Steuerung. Das rächt sich nun in der Krise, die Politiker wie ­„Getriebene der Ereignisse“ (Gauck) aussehen lässt.

Anders als Vorgänger wie Horst Köhler verkniff sich Gauck unerbetene Ratschläge an die Politik oder ­Seitenhiebe. Kritik an Merkel kann man nicht heraushören.

Nicht ohne die Briten!

Gauck rief den Bürgern in Erinnerung, was sie an einem geeinten Europa haben: „Unsere europäischen Werte sind verbindlich und sie verbinden.“ Der Präsident wünschte sich mehr Engagement und Zusammenarbeit, auch und gerade mit den Briten. „Mehr Europa soll nicht heißen: ohne Euch“, sagte er.

Wie Merkel glaubt er, dass die Europäer nur gemeinsam „Global Player“ sein können. Auf die Rolle seien sie zu wenig vorbereitet. Er plädierte für eine gemeinsame ­Finanz-, Wirtschafts-, Außen-, ­Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und: Für eine neue ­Haltung. „Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter.“

Schutz für Merkel

Er sehe unter den „politischen Gestaltern“ in Deutschland ­niemanden, „der ein deutsches Diktat anstreben würde“, ver­sicherte der Präsident. Bis ­heute habe sich die Gesellschaft als rational und reif ­erwiesen: „Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unsere Konzepte aufdrücken.“

Europa verstehen

Europa fehlt nach Gaucks Analyse eine gemeinsame ­Öffentlichkeit. Dazu gehört nach seinen Vorstellungen eine Verkehrssprache – Englisch, wohlgemerkt – und eine Art „ARTE für alle“, ein Multikanal für mindestens 27 Staaten. „Dort müsste mehr gesendet ­werden als der Eurovision Song Contest und ein europäischer ­Tatort“, forderte er. Kommuni­kation sei „kein Nebenthema des Politischen“. Sie diene einem Ziel, das Gauck so formulierte: „Mehr europäische ­Bürgergesellschaft.“

Die Wunschliste

Drei Wünsche schrieb sich Gauck auf. Seine Liste: „Sei nicht gleichgültig“, die Themen, die im fernen Brüssel behandelt werden, gingen jeden an. „Sei nicht bequem“, denn die Europäische Union sei nun mal kompliziert. „Erkenne Deine Gestaltungskraft“, denn ein besseres Europa entstehe nicht, „wenn wir die Verantwortung dafür immer nur bei anderen sehen“, so der Präsident.

Das Echo

Mehrmals wurde er von Beifall unterbrochen, am Ende ­wurde ihm stehend applaudiert. In Berlin war kein Widerspruch zu hören. Mit der Kanzlerin hatte er sich abgestimmt. Ihrem SPD-Herausforderer Peer Steinbrück – er fordert seit langem eine Erzählung von Europa – sprach Gauck aus dem ­Herzen: „Der Bundespräsident hat Recht, es geht um mehr als um die ­gemeinsame Währung.“