Fast ein Jahr hat sich der Bundespräsident Zeit gelassen mit seiner ersten großen Rede, aber das Warten hat sich gelohnt: Joachim Gaucks Europa-Rede ist nun nicht nur eindrucksvoller Beleg dafür, dass das Staatsoberhaupt seine Aufgabe als Orientierungsgeber souverän auszufüllen vermag.

Der Präsident hat gezeigt, wie die ­Debatte über die Zukunft des Kontinents vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann: Gauck hat aus der Perspektive der Bürger über Europa gesprochen, ohne das übliche Pathos, ohne visionäre Schlagworte, aber dafür mit echter Überzeugung.

Ja, es lässt sich also über den unschätzbaren Wert der europäischen Idee reden, ohne in die süße Frieden-Freiheit-Wohlstand-Rhetorik zu verfallen. Man kann auch trotz der Schuldenkrise ein leidenschaftliches Bekenntnis zu mehr Europa abgeben – und gleichwohl offen die Fehler benennen, die etwa bei der Erweiterung der Union oder bei der Euro-Einführung passiert sind.

Das Misstrauen wächst

Die Vertrauenskrise, die Gauck zu Recht beklagt, hängt ja nicht nur mit dem stolpernden Euro-Krisenmanagement zusammen. Das Misstrauen wächst, weil sich ein Teil der EU-Politik mit dröhnendem Europa-Pathos gegen jede Kritik immunisiert hat – und die Bürger mit dem Gefühl zurücklässt, bei alldem nicht mehr gefragt zu sein.

Gauck hat diesen Unmut klug aufgenommen. Aber er ist dabei nicht stehen geblieben. Sein Plädoyer, mehr Europa brauche mehr Vertrauen, zielt auf die Bequemlichkeit auch der deutschen Politik, die um dieses Vertrauen nicht wirbt. An einer stärkeren Zusammenarbeit etwa in der Wirtschafts- oder Außenpolitik, an einer weiteren Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel führt kein Weg vorbei. Hinter den Kulissen wird daran gearbeitet.

Einfühlsam und mit Zuversicht

Im Gegenzug könnten andere Aufgaben auch zurück an die Mitgliedsstaaten gegeben werden. Nur: Obwohl die weitere Integration für die nächste Bundesregierung ein zentrales Thema sein wird, scheut die Politik im Wahljahr jede Diskussion darüber – aus Sorge, Wähler zu verunsichern, aus Angst, Farbe bekennen zu müssen, herrscht zu den Plänen für Europas Zukunft Schweigen.

Zu Recht fordert Gauck jetzt Mut und Gestaltungswillen: Eine breite Debatte über das künftige Europa ist überfällig. Gauck hat sie eröffnet, einfühlsam und doch mit Zuversicht. Gut gemacht, Herr Präsident!