Berlin.. In einem offenen Brief, der am Montag veröffentlicht wurde, fordern Wissenschaftler, Politiker, Gewerkschafter und Publizisten eine Debatte über Arbeitszeitverkürzung, um die Massenarbeitslosigkeit in Europa zu bekämpfen.
Um die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und Europa zu bekämpfen, fordern über 100 Wissenschaftler, Politiker und Gewerkschafter in einem offenen Brief eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Unterzeichnet haben das Schreiben unter anderem Katja Kipping und Sahra Wagenknecht von der Linkspartei oder der Sozialphilosoph Oskar Negt. Sie wenden sich an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände sowie die Kirchenleitungen in Deutschland.
„Das sind die entscheidenden Stellen, die dafür sorgen können, dass die Arbeit verknappt wird. Sonst kommen wir aus dem Tal der Massenarbeitslosigkeit nicht heraus“, sagte Heinz-Josef Bontrup, Professor für Wirtschaftsrecht an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen im Gespräch mit dieser Zeitung. Bontrup ist Mitinitiator des Briefs.
"Drei Millionen Beschäftigte können von ihrer Arbeit nicht leben und sterben"
Arbeitszeitverkürzung sei keine rein tarifpolitische Angelegenheit mehr, sondern müsse als gesamtgesellschaftliches Projekt wahrgenommen werden: „Neben den offiziell etwas über drei Millionen Arbeitslosen gibt es drei Millionen Beschäftigte in Teilzeit und prekären Verhältnissen, die im Schnitt 14,7 Stunden in der Woche arbeiten und davon nicht leben und sterben können. Wer sagt, dass in Deutschland nahezu Vollbeschäftigung herrscht, lügt“, führte Bontrup aus.
In dem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, heißt es, dass „ein Überangebot an den Arbeitsmärkten zu Lohnverfall führt“. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit in Europa gelte es aber zu verhindern, „weiterhin die Krisenlasten der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit aufzubürden“. Eine Arbeitszeitverkürzung sollte aus Sicht der Unterzeichner gestreckt über mehrere Jahre erfolgen. Um Lohnverlust zu vermeiden, sollten Preis- und Produktivitätssteigerung den Beschäftigten zugute kommen.
Nach Meinung der Autoren würde sich die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auch für Familien positiv auswirken, Stresserkrankungen wie Burnout könnten verringert werden.
Wirtschaftsexperten kritisieren Entwurf
Aus Sicht von Jochen Kluve, Arbeitsmarktexperte beim Essener Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsinstitut (RWI), ist der dem Schreiben zugrunde liegende Ansatz falsch: „Es gibt keine fixe Menge an Arbeit, die nur effizient verteilt werden muss, so dass jeder beschäftigt ist.“ Arbeit sei dynamisch und abhängig von der Situation der Unternehmen und der Qualifikation der Arbeitnehmern.
Auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt Kritik. Konjunkturexperte Karl Brenke hält das Instrument der Arbeitszeitverkürzung für ungeeignet, um gegen Arbeitslosigkeit vorzugehen. „Das würde zu einer weiteren Rationalisierung bei einfachen Jobs führen. Menschen mit geringer Qualifikation wäre so nicht geholfen.“ Wer dazu beitragen wolle, dass die Beschäftigten von ihrer Arbeit auch leben können, müsse eine Debatte über Lohnerhöhungen anstoßen. „Die Gehälter haben sich in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren im europäischen Vergleich eher unterdurchschnittlich entwickelt.“