Moskau. Die EU-Ratspräsidentschaft verurteilt den Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa. Sie habe schreckliche Verstöße und Massenhinrichtungen dokumentiert, heißt es in einem Medienbericht. Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschuldigt Tschetschenenführer.
Die wichtigste russische Menschenrechtsorganisation Memorial hat den Kreml-treuen tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow die Schuld am Mord an der Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa gegeben. Memorial-Chef Oleg Orlow erklärte in der Nacht zum Donnerstag, Kadyrow sei «schuld». Orlow erinnerte daran, dass Kadyrow Estemirowa «beleidigt» und als «seine persönliche Feindin» bezeichnet habe. «Wir wissen nicht, ob er selbst den Befehl gegeben hat oder einer seiner engen Vertrauten, um ihm zu gefallen», hieß es in der Erklärung der Organisation. Kadyrow hatte die Tat zuvor in einer Reaktion als «unmenschlich» verurteilt.
EU-Ratspräsidentschaft verurteilt die Tat
Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft hat den Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa verurteilt. «Wir verurteilen diese brutale Tat und rufen die Behörden auf, zu versuchen herauszufinden, wer verantwortlich ist», sagte der schwedische Außenminister Carl Bildt am Mittwoch in Straßburg. Der neue Präsident des EU-Parlaments, Jerzy Buzek, reagierte im Namen der Europaabgeordneten mit «großer Trauer» auf den «tragischen Tod» der 50-jährigen Aktivistin. Er forderte die Behörden in Moskau auf, eine Untersuchung einzuleiten und alles zu tun, um die Mörder vor Gericht zu bringen.
Die USA reagierten «tief betrübt» auf den Tod der Menschenrechtsaktivistin. Außenamtssprecher Ian Kelly forderte die russische Regierung in einer Erklärung auf, die Verantwortlichen zu finden. Estemirowa sei eine «angesehene» Aktivistin gewesen, die sich ganz der Aufgabe verschrieben habe, vor allem in Tschetschenien Menschenrechtsverletzungen ans Licht zu bringen.
Außenminister Steinmeier: "Feige Tat"
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte sich bestürzt über die Ermordung Estemirowas. Er verurteile diese «feige Tat auf das Schärfste», erklärte Steinmeier. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) sprach von einer «schrecklichen Tragödie.»
Wenige Stunden nach einer Pressekonferenz über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien war die prominente Aktivistin in der Kaukasusregion ermordet worden. Ob es zwischen der Ermordung von Natalja Estemirowa und der Konferenz einen direkten Zusammenhang gab, war am Mittwoch zunächst nicht bekannt. Die 50-Jährige war aber eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen der russischen Menschenrechtsorganisationen, die in Moskau den Bericht vorlegten.
«Sie hat die schrecklichsten Verstöße, Massenhinrichtungen, dokumentiert», sagte Tatjana Lokschina von Human Rights Watch der Nachrichtenagentur AP in Moskau. «Sie war ein Schlüsselkontakt für ausländische Journalisten und internationale Organisationen. Sie hat Dinge getan, die sonst niemand zu tun wagte.»
Von vier Männern in ein Auto gezerrt
Der Chef der Menschenrechtsgruppe Memorial, Oleg Orlow, sagte der AP, Estemirowa sei am Mittwoch in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny von vier Männern in ein Auto gezerrt worden. Augenzeugen hätten gehört, dass Estemirowa gerufen habe, sie werde entführt. Ihre Leiche wurde in einem Straßengraben in Inguschetien, der Nachbarrepublik Tschetschenien, gefunden.
Eine Sprecherin des inguschetischen Innenministeriums, Madina Chadsijewa, sagte, Estemirowas Leiche weise zwei Schusswunden am Kopf aus, die aus nächster Nähe zugefügt worden seien. Orlow warf dem vom Kreml unterstützten Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, vor, hinter der Bluttat zu stecken. Kadyrow habe Estemirowa bedroht und sie als «seinen persönlichen Feind betrachtet», sagte Orlow.
Der russische Präsident Dmitri Medwedew äußerte sein Beileid und ordnete Ermittlungen an. Estemirowas Tot stehe offenbar in Zusammenhang mit ihrer Arbeit, erklärte eine Sprecherin des Staatschefs.
Menschenrechtler fordern Anklage Putins
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen legten in Moskau einen 600 Seiten starken Bericht vor, demzufolge in den tschetschenischen Kriegen 484 Menschen ohne Gerichtsverfahren erschossen und 465 weitere in Massakern an Kontrollposten umgebracht wurden. Es scheint der erste umfassende Versuch zu sein, Daten und Fakten über Gräueltaten beider Seiten vorzulegen und zu analysieren. Auf der Pressekonferenz forderten die Menschenrechtler, Ministerpräsident Wladimir Putin und andere führende russische Politiker vor einem internationalen Strafgericht anzuklagen. Putin war bereits 1999 Regierungschef. Das von ihm befohlene brutale Vorgehen der Streitkräfte im zweiten Tschetschenienkrieg gilt als ein Grund seiner großen Popularität in der russischen Bevölkerung während seiner achtjährigen Präsidentschaft.
Estemirowa, eine alleinerziehende Mutter, hat seit 1999 Daten über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien gesammelt. Mehrere ihrer Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie zusammenarbeitete, wurden seitdem getötet: Die Journalistin Anna Politkowskaja 2006 und der Anwalt Stanislaw Markelow im Januar. Die Menschenrechtsanwältin Karina Moskalenkos sagte, es habe wegen des am Mittwoch vorgelegten Berichts indirekte Drohungen gegeben. Man habe sie gefragt: «Warum wollt ihr diese Wunden offen legen?» (afp/ap)