Berlin. Die Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron sprach zum Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages. Sie ist 90 und eine der letzten Zeitzeuginnen des Nazi-Terrors. Tief bewegt hörten die Politiker der Dame zu.
Sie hat den Holocaust überlebt - und sich oft gefragt, „mit welchem Recht verstecke ich mich?“ Da war ein Gefühl von Schuld, das „mich nie losließ“, erzählt Inge Deutschkron. Sie war jung, erst Mitte 20, als die NS-Herrschaft endete und als das Nachkriegsdeutschland lieber nach vorn schauen wollte.
„So vergessen Sie doch, Sie müssen doch vergeben können, es ist doch so lange her“. Sie hörte die Leute, „und da wusste ich, was meine Pflicht war: Ich muss es niederschreiben, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos.“ Und das tat Inge Deutschkron dann, genau so - nüchtern, unaufgeregt - als Journalistin, Buchautorin, am Mittwoch als Rednerin vor dem Bundestag.
Der Frau, die den gelben Stern trug, hörten am Mittwoch alle zu, die Spitzen des Staates, Kabinett und Parlament, die vollzählig erschienen sind, neben ihr Bundespräsident Joachim Gauck, der ihr die Hand drückt und sie anlächelt, als sie begrüßt und im Hohen Haus mit Beifall bedacht wird.
30. Januar 1933: "Du gehörst nun zu einer Minderheit"
Das KZ Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit. Es ist seit 2006 ein Nationaler Gedenktag. Diesmal setzte der Bundestag die jährliche Zeremonie auf den 30. Januar fest. Nicht irgendein Datum. Da wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, da begann „das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte“, erinnert Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). An den Tag kann sich die Zeitzeugin gut erinnern, daran, wie sich die Mutter zu ihr setzte und ihr eröffnete: „Du gehörst nun zu einer Minderheit.“
Mit dem Judentum hatte sie sich als Mädchen nie beschäftigt, nicht in der Schule und nicht im sozialistischen Elternhaus, wo Religion keine Rolle spielte. Sie müsse nun in der Schule zeigen, dass sie nicht weniger wert sei als andere, sagte die Mutter. „Lass Dir nichts gefallen, wehr Dich.“ Ein Satz, der „mein ganzes Leben bestimmen sollte“, so Deutschkron.
In Berlin haben nur 1700 Juden den Holocaust überlebt, versteckt bei Mitbürgern. Deutschkron erzählt von der Zeit in ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“. Viele Zeitzeugen leben nicht mehr viele. Die kleine Frau im schwarzen Kleid ist auch schon 90 Jahre alt. Lammert betrachtet es als seine Aufgabe, neue Formen der Erinnerung zu suchen.
Deswegen organisierte der Bundestag für 80 Jugendliche letzte Woche eine Reise in die Ukraine. Sie sprachen dort mit Zwangsarbeitern, trafen Zeitzeugen von Erschießungen, standen vor den lange vergessenen Massengräbern, die erst der französische Pater Patrick Desbois wieder lokalisiert hat. Auch ihn lud Lammert nach Berlin ein.
Damals haben sich die Gräber tagelang bewegt, „weil manche Opfer noch lebten“, sagt Lammert; man hört den Kloß in seinem Hals. Ihn kann in solchen Momenten der heilige Zorn packen. Der Bundestagspräsident ärgert sich, dass ARD und ZDF Inge Deutschkrons Auftritt nicht wichtig genug fanden, um ihn auch in ihren Hauptprogrammen zu übertragen. Sie haben am Mittwoch etwas verpasst.