Mülheim. .

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Das sagt Gunter Demnig, ein Künstler, dem man in vielen Teilen Deutschlands begegnen kann – und der auch in Mülheim schon tiefe Spuren hinterlassen hat. Im Jahr 2004 hat er in unserer Stadt seine ersten kleinen Stolpersteine verlegt. Mit den quadratischen Gedenktafeln aus Beton und Messing erinnert der gebürtige Berliner an Opfer der NS-Zeit, an Menschen, die keine Chance hatten.

Vor ihrem letzten frei gewählten Wohnsitz versenkt Demnig seine Erinnerungssteine im Bürgersteig. Und holt damit seit 1995 bundesweit Stück für Stück grausame Geschichte aus der Versenkung. Im Blötter Weg beispielsweise erinnert folgende Inschrift an erlittenes Unrecht: „Hier wohnte Hans Klapper, Jahrgang 1904, verhaftet 29. 1. 1943, Strafbataillon 999, tot 1945 in Sarajewo“. Es sind nur wenige Daten, die vermerkt sind – doch sie reichen, um das Ausmaß des Nazi-Grauens zu erahnen. Zumal in geballter Form: Wer aufmerksam durch die Straßen der Stadt läuft, kann bereits 100 Steine an 52 Orten entdecken – und ganz bald kommen zehn neue hinzu.

Dafür reist der viel beschäftigte Gunter Demnig allerdings nicht selbst an, aktiv wird der Mülheimer „Arbeitskreis Stolpersteine“. Vor dem Haus Friedrich-Ebert-Straße 76 erinnert künftig ein Stein an das Ehepaar Fritz und Helene Bleiweiß und vor der Bachstraße 21 einer an Antonie Kox. Im Haus Leineweberstraße 4 lebten einst die Schwestern Jenny und ­ Sophie Marx, auch ihrer wird künftig per Stolperstein gedacht. Das Ehepaar Josef und Karoline Philipps hatte die Anschrift Düsseldorfer Straße 113 und das Ehepaar Karl und Martha Pless wohnte im Haus Viktoria­straße 26, gegenüber der ehemaligen Mülheimer Synagoge. Henny Schröter schließlich war unter der Adresse Steiler Weg 31 zu Hause. Auch an ihrem Schicksal kommt ab März kein aufmerksamer Fußgänger mehr vorbei.

Demnigs Idee hat sich zum weltweit größten dezentralen Holocaust-Mahnmal entwickelt; 30 000 Steine wurden an mehr als 700 Orten in Deutschland, Belgien, Italien, Österreich, Polen, Tschechien, der Ukraine, Ungarn und Norwegen verlegt. Dem 1947 geborenen Künstler geht’s beim Stolpern nicht ums Hinfallen, sondern um ein „Stolpern mit dem Kopf und dem Herzen“.

Schüler und Lehrer der Realschule Stadtmitte haben Demnig in die Stadt geholt: 2004 feierten sie das 75-jährige Bestehen ihrer Schule. Und hatten in alten Unterlagen Namen jüdischer Schüler entdeckt, von denen einige im KZ umgekommen waren. Eine verstörende Entdeckung, die sie motivierte, Kontakt zu Demnig aufzunehmen. Ende 2004 lagen dann die ersten sieben Steine.

Die Mülheimer Initiative für Toleranz und das Stadtarchiv setzten die Aktion fort. Der „Arbeitskreis Stolpersteine“ wurde gebildet – und widmet sich seitdem Stein für Stein dem Kampf gegen das Vergessen.

Die Biografien zu den Stolpersteinen offenbaren die Bandbreite des Naziterrors. Ein ABC des Grauens:

A lthofstraße 48: Hier war Bernhard Broccai (*26. Juni 1880 in Bottrop) zu Hause. 1908 heiratete der Bergmann die Styrumerin Gudula Kastenholz, deren Mutter am Löhberg 76 eine Buchhandlung besaß. Diese wurde nach der Hochzeit auf Broccai umgeschrieben. 1931 wurde aus dem Laden eine Leihbücherei, Standort war die Althofstraße 48. Im Jahr ‘33 beschlagnahmte die Gestapo dort 3000 Bücher missliebiger Autoren. Broccai gehörte einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. Aufgrund der Anzeige eines Nachbarn wurde er 1944 verhaftet; die Gestapo deportierte ihn nach Sachsenhausen, später nach Neuengamme. Dieses KZ wurde im April ‘45 evakuiert, die Häftlinge wurden auf zwei Schiffe verladen. Die „Cap Arcona“ und die „Thielbeck“ lagen mit 7500 Häftlingen in der Lübecker Bucht – und wurden am 3. Mai 1945 von der Britischen Luftflotte attackiert. Nur 400 Häftlinge überlebten – Broccai gehörte nicht zu ihnen.

B ismarckstraße 31: Arthur Brocke (*14. April 1884 in Aachen), studierter Bauingenieur, war ab 1919 Beigeordneter in Mülheim. Als Baudezernent plante er u.a. den Flughafen, das Ruhrstadion und die Realschule Stadtmitte. Nach Machtübernahme der Nazis wurde er als nicht parteitreuer leitender Beamter unter fadenscheiniger Begründung in Schutzhaft genommen. SS-Trupps bedrohten ihn im eigenen Haus; eine Rufmordkampagne verstärkte den Druck so sehr, dass er sich am 18. September 1933 in seiner Villa das Leben nahm.

C arsch, David und Emma lebten mit ihren neun Kindern im Haus Bachstraße 21. Von vier Kindern sind die Schicksale überliefert, darunter das von Kaufmann Hugo Carsch (*2. Mai 1885). Er wurde im April 1942 deportiert und endete im Vernichtungslager Auschwitz. Auf Drängen der Nazis hatte sich seine Frau, Julia Carsch, zuvor von ihm scheiden lassen und überlebte so als Katholikin den Holocaust. Hugos Schwester Jenny Carsch (*28. September 1887) wurde nach Litzmannstadt deportiert und vermutlich ermordet, ebenso die Schwestern Selma (*22. Januar 1894) und Adele (*18. Februar 1896). Das Amtsgericht Mülheim erklärte später alle vier Geschwister für tot.

D reis, Peter (*30. Mai 1878 in Kalk) lebte im Haus Mendener Straße 26. Ab 1903 ließ er sich in Oberhausen zum Verwaltungssekretär ausbilden und trat 1908 in den Dienst der Stadt Mülheim ein. Mehrfach befördert, ging Dreis als Stadtamtmann Anfang 1937 in Ruhestand. Im Sommer 1944 erkrankte Dreis. Unvorsichtigerweise äußerte er sich im Gespräch mit seinem Arzt regimekritisch und bekannte offen, Kriegsberichte auf englischen Radiosendern zu verfolgen. Wegen des Abhörens feindlicher Sender und Wehrkraftzersetzung wurde er im August 1944 von der Gestapo verhaftet und ins Mülheimer Polizeigefängnis eingewiesen. Später, im Duisburger Gerichtsgefängnis, wurde er misshandelt und nicht ausreichend ärztlich versorgt. Zu spät erkannte der Gefängnisarzt seinen schlechten Gesundheitszustand: Dreis starb am 9. November 1944.

E ppinghofer Straße 83: Als Kind jüdischer Eltern kam Juliane (Julie) Tobias am 3. August 1886 im Kreis Neuwied zur Welt. Sie hatte acht Geschwister, lediglich vier überlebten den Holocaust. Julie Tobias wohnte ab 1928 in Mülheim. Sie war Textil-Verkäuferin, zuletzt Abteilungsleiterin der Firma Rachelmann & Co. Seit April 1933 war sie erwerbslos, da ihr die Nazis die Berufsausübung untersagten. Nach einer Zwangseinweisung in das „Judenhaus“, Auerstraße 23, wurde sie Ende 1941 nach Lettland deportiert. Wie es ihr dort erging, ist unbekannt. Zum 31. Dezember 1945 wurde sie für tot erklärt.

F rosch, Jakob wurde am 29. Juli 1900 in Kienburg im Bezirk Traunstein geboren. Mehrmals musste er ins Gefängnis – als Begründung diente die „fremdrassische Zugehörigkeit als ungarischer Zigeuner“. Seine Frau Rosa und er arbeiteten beim Zirkus Althoff als Artisten; im September 1939 wurde ihnen die Ausübung des Berufs verboten. Die Familie Frosch, zu der vier Kinder gehörten, lebte in einem Wohnwagen an der Kreuzstraße 70. Sie wurden am 2. Februar 1943 in das Familienghetto Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurden die Kinder von den Eltern getrennt und vermutlich vergast. Jakob Frosch starb laut Ehefrau Rosa im September 1943 an einer Typhus- und Malariaerkrankung. Sie überlebte das KZ, kehrte nach Mülheim zurück.

G eorgstraße 24: Hier war Fritz Cohn zu Hause, der am 23. Februar 1919 in Mülheim geboren worden war – als Sohn des jüdischen Kaufmanns Gustav Cohn und seiner Frau Henriette, geborene Apelt. In der Dickswallschule erhielt er Religionsunterricht durch den örtlichen Rabbiner. 1929 wechselte er auf die städtische Knabenmittelschule, absolvierte später eine kaufmännische Lehre. Im Mai 1939 setzte sich Cohn nach Amsterdam ab; der Rest der Familie wanderte nach Argentinien aus. Fritz Cohn wurde die Wahl seines Zufluchtsortes zum Verhängnis: Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht wurde er verhaftet und in das niederländische Durchgangslager Westerbork eingewiesen. 1944 erfolgte die Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz, wo er ermordet wurde. Da sich das Todesdatum nicht ermitteln ließ, erklärten die Behörden Cohn mit Datum vom 8. Mai 1945 für tot.

H irsch, Joseph (*28. März 1887) war von Beruf Viehhändler; 1921 heiratete er die ebenfalls aus Mülheim stammende Else Meier (*16. April 1894). Mit Sohn Gerhard (*18. Februar 1924) lebte die Familie ab 1937 an der Eppinghofer Straße 133. Ende des Jahres 1937 floh Vater Joseph Hirsch nach Nijmegen (Niederlande), Sohn Gerhard kam 1939 nach. Ehefrau Else blieb in Mülheim. Der letzte bekannte Wohnort von Vater und Sohn war Amsterdam. Von dort wurde Joseph bei einer der – seit 1942 üblichen – Razzien über das niederländische Internierungslager Westerbork nach Theresienstadt deportiert; Gerhard wurde nach Auschwitz verbracht. Beide kamen in den Konzentrationslagern ums Leben. Else Hirsch kam mit dem berüchtigten Transport vom 21. Juli 1942 von Düsseldorf-Derendorf nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz. Dort ist sie vermutlich noch im selben Monat ermordet worden.

I nternationale Bibelforscher hießen Männer wie der Mülheimer Paul Weseler (*11. Februar 1901) einst – heute spricht man von den Zeugen Jehovas. Weselers letzte Adresse lautete Prinzeß-Luise-Straße 100; von Beruf war er Mineur und Schmelzer. Wegen „Nichtbefolgung nationalsozialistischer Grundsätze“ wurde er 1936 zu sieben Monaten Haft verurteilt, 1943 erneut verhaftet und nach Berlin gebracht. Dazu die Gestapo-Akten: „Der Angeklagte bekennt sich zu den Anschauungen und Zielen der Internationalen Bibelforscher Vereinigung. 1933 wurde diese aufgelöst und verboten, weil sie in zahlreichen Schriften die Einrichtungen von Staat und Kirche verhöhnt hat. Der Angeklagte hat durch Lesen und Verbreiten der Schriften daran mitgewirkt, diese illegale Organisation aufrecht zu erhalten.“ Paul Weseler wurde zum Tode verurteilt; am 11. August 1944 kam er in der Strafanstalt Brandenburg-Havel durch die Guillotine um.

J onas, Karl und Martha lebten bis 1933 an der Bachstraße, dann an der Löhstraße 53. Aus der Ehe von Karl (*23. Mai 1870) und der sechs Jahre jüngeren Martha ging Tochter Trude hervor (*3. Juli 1901), von der nur bekannt ist, dass sie das Städtische Lyzeum besuchte, wo sie 1918 ihr Abitur ablegte, und dass sie 1920 nach Berlin umzog. Das Gebäude, in dem Trudes Eltern ab 1933 lebten, gehörte zur Mülheimer Synagogengemeinde. Dort verbrachten die Gemeindemitglieder glückliche Zeit miteinander. Ende der 30er allerdings wurde das Haus zum „Judenhaus“ umfunktioniert, in das etliche der noch in Mülheim verbliebenen Juden zwangseingewiesen wurden. Karl und Martha Jonas flohen Anfang des Jahres 1939 vor den Repressalien des NS-Regimes nach Den Haag (Niederlande), wo sich ihre Spur verliert. Eine Deportation in eines der deutschen oder polnischen Vernichtungslager ist sehr wahrscheinlich.

K lapper, Hans (*8. Dezember 1904), der ursprünglich aus Königsberg kam, lebte mit seiner Frau Ida und einem Sohn am Blötter Weg 183. Bis 1934 arbeitete er als Kokillenputzer bei den Eisenwerken Mülheim/Meiderich, dann als Maurer und Polier. Anfang der 30er gehörte er der Roten Hilfe an und dem Kampfbund gegen den Faschismus; Klapper war an kommunistischen Überfällen auf die Nazis beteiligt. 1933 wurde er erstmals inhaftiert. In der Folgezeit spendete er Geld für politische Gefangene und bezahlte als Mitglied einer kommunistischen Zelle Mitgliedsbeiträge. Das hatte Folgen: Im April 1935 wurde er bei der Gestapo angezeigt und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Anfang 1943 wurde Klapper zum Bewährungsbataillon 999 – einer Strafeinheit – eingezogen. Bei Kämpfen auf dem Balkan wurde er verwundet und verstarb im Lazarett von Sarajewo.

L ehnkering, Anna (*2. August 1915) wurde als drittes Kind von Heinrich Friedrich Hermann Lehnkering und seiner Frau, Anna Johanna Helene, geb. Sommer, in Oberhausen geboren. Von ihren Brüdern wurde sie als „sehr liebes und sanftmütiges Mädchen“ beschrieben. Auf Grund einer Lernschwäche besuchte sie die so genannte Hilfsschule. Zeitweise wurde sie mit anderen behinderten Mädchen in der evangelischen Kirchengemeinde Oberhausen betreut. Sie half ihrer Mutter im Haushalt, ging später den Schwestern im Evangelischen Krankenhaus in Mülheim zur Hand. 1934 zog Anna Lehnkering nach Mülheim, Düsseldorfer Straße 38. Nach der Machtübernahme durch die Nazis geriet sie in deren Visier, da man Menschen mit Behinderung als „unwertes Leben“ betrachtete. So wurde sie am 2. November 1935 im Ev. Krankenhaus zwangssterilisiert. Am 21. Dezember 1936 wurde Anna in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau im Kreis Kleve eingewiesen. Dort begann ein Leidensweg, der sich auch fortsetzte, als Anna am 6. März 1940 in die Euthanasie-Vernichtungsanstalt in Grafeneck (Schwäbische Alb) verlegt wurde. Vermutlich ist sie am 7. März 1940 ermordet worden.

M eister, Paul Max Otto (*11. Januar 1881 in Berlin) verlor seine Eltern früh, verbrachte die Kindheit im Waisenhaus. Er lernte Zimmermann, heiratete und wurde Vater von sechs Söhnen. Ab 1903 lebte er in Mülheim, war zeitweise Stadtverordneter der Kommunistischen Partei (KPD). Im März 1933 wurde er wegen verbotenen Waffenbesitzes verhaftet und für einige Monate ins KZ Börgermoor verbracht. Seine Familie wurde zwischenzeitlich gezwungen, ihre Wohnung am Kesselbruchweg aufzugeben und ins Haus Bonnstraße 14 zu ziehen. Im Oktober 1935 wurde Meister erneut verhaftet und wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Vermutlich im August 1944 wurde Paul Meister ins KZ Flossenbürg deportiert; dieses KZ wurde durch die SS im April 1945 zwangsevakuiert. Die Gefangenen waren drei Tage bei strömendem Regen unterwegs, mussten im Freien kampieren. Meister litt unter den Strapazen, zumal seine Gesundheit durch das KZ angeschlagen war. Der Treck wurde auf dem Weg nach Straubing durch die Amerikaner befreit. Zu spät: Paul Meister war schwach und vermutlich schwer misshandelt worden. Am 23. April 1945 starb er im Krankenhaus in Roding in der Oberpfalz.

N eue Namen: So mancher Überlebende, der sich nur durch Flucht ins Ausland retten konnte, änderte in der Ferne seinen Namen. Das half beim Einleben – und auch dabei, die grauenhaften Erinnerungen ein wenig in den Griff zu bekommen. So wurde aus Heinz Bleiweiß, der rechtzeitig nach Chile ausgewandert war, Enrique Bleiweiß. Auch viele Mülheimer, die sich in Palästina eine neue Heimat schufen, legten sich laut Stadtarchivar Jens Roepstorff neue Personalien zu, passten den Namen dem Land an.

O berhausener Straße 96: Paul Groß (*9. Mai 1908) war der Sohn von August und Bertha Groß. Von Beruf war er Werkzeugschlosser und wohnte mit den Eltern in Styrum. Groß wurde – nachdem ihn ein Nachbar denunziert hatte – vom Sondergericht Düsseldorf am 22. Februar 1938 wegen Zugehörigkeit zur Internationalen Bibelforschervereinigung (Zeugen Jehovas) zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Im Juli 1943 wurde er vom IV. Senat des Reichskriegsgerichtes wegen Wehrunwürdigkeit, Ehrverlust und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und am 9. August 1943 in Brandenburg (Havel) hingerichtet.

P lachschinski, Gutmann (*24. Mai 1873 bei Lodz) und Ehefrau Agnes (*10. April 1875) kamen im Juli 1892 nach Mülheim. Er trat die Stelle als Kantor der Jüdischen Gemeinde an. Da die Texte überwiegend auf Hebräisch gelesen wurden, muss Plachschinski über gute Sprachkenntnisse verfügt haben. Vermutlich wurde er deswegen auch zum Religionslehrer für jüdische Kinder ernannt. 1904 unterschrieb er die Urkunde zur Grundsteinlegung für die Synagoge am Viktoriaplatz. Die Kinder des Ehepaars waren allesamt gebürtige Mülheimer: Alfred (1903), Liselotte (1906) und Hans (1909). Die Familie wohnte ab April 1933 im Gemeindehaus Löhstraße 53. Dort fanden nach der Zerstörung der Synagoge noch Gottesdienste statt. Am 21. Juli 1942 wurden die Eltern nach Theresienstadt deportiert und später für tot erklärt. Die Kinder retteten sich durch Auswanderung nach Mexiko.

Q uellen: Sie sind das wichtigste Handwerkszeug für die Mitglieder des Arbeitskreises Stolpersteine. Nur mit Hilfe fundierter Akten lassen sich die oft sehr traurigen Schicksale der Mülheimer Bürger nachvollziehen. Hilfreich ist für Archivar Jens Roepstorff und seine Mitstreiter etwa die „Sammlung Bennertz“. Gerhard Bennertz, Theologe und ehemaliger Berufsschullehrer, trägt seit 1982 jüdische Schicksale zusammen und hat für seine Arbeit bereits das Bundesverdienstkreuz erhalten. Informationen finden sich auch im Stadtarchiv; Recherchen im Melderegister haben immer wieder Erfolg.

R osenbaum, Leopold(*20. Mai 1884 in Schleiden) wohnte mit seiner Familie, zu der drei Söhne zählten, im Hause Meidericher Straße 29 (seit 1946: Rosenkamp 29) in Styrum. Er betrieb einen Altwarenhandel. Im Oktober 1941 wurde die Familie Rosenbaum in das Gebäude Delle 29 zwangsweise umquartiert. Es handelte sich dabei um ein „Judenhaus“, in das jüdische Einwohner nach Enteignung und Vertreibung aus ihrer alten Wohnung eingewiesen wurden. Zumeist folgte kurz darauf die Deportation in ein Konzentrationslager. So auch im Fall der Familie Rosenbaum; der Eintrag im städtischen Melderegister dazu lautet: „21. 4. 1942 Abwanderung n[ach] unbekannt.“ Tatsächlich wurden die Rosenbaums nach Izbica deportiert und von dort in ein Konzentrationslager im lettischen Riga. Das genaue Schicksal der Familie ist unbekannt. Sämtliche Mitglieder wurden vom Amtsgericht Mülheim für tot erklärt.

S tachelhaus, Hermann: Er kam am 15. April 1893 in Mülheim zur Welt, lebte im Haus Dohne 25. Er besuchte die evangelische Volksschule und machte eine Lehre zum Anstreicher. 1915 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, nach einer Verwundung aber entlassen. Danach arbeitete er auf der Zeche Wiesche in Heißen. Er war verheiratet, hatte drei Kinder. Bis Januar ‘33 gehörte er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) an. Ende 1934 wurde Stachelhaus festgenommen; in Vernehmungen gestand er, Beiträge für die illegale KPD gezahlt zu haben. Urteil: zwei Jahre wegen Vorbereitung zum Hochverrat. 1936 wurde Stachelhaus wegen Krankheit entlassen. Er starb am 7. März 1937 – nach Aussage seines Arztes an den Folgen der Haftbedingungen.

T raub, Benjamin (*25. November 1914) war das vierte Kind von Karl Friedrich Traub – Prediger der Baptistischen Gemeinde – und seiner Frau Karoline. Er war der jüngste Bruder des Mülheimer Künstlers Daniel Traub. Benjamin galt als sehr begabt und besuchte bis 1931 die Oberrealschule (heute: Karl-Ziegler-Schule). Mit 15 Jahren bekam er Krampfanfälle, die auf Jugendschizophrenie hindeuteten. Lange Jahre wurde er deshalb stationär behandelt. Am 13. März 1941 holten ihn (und weitere 64 Patienten) die berüchtigten grauen Busse der zur Tötungsanstalt umgebauten Heil- und Pflegeanstalt Hadamar ab. Im Keller der Anstalt wurden Traub und die anderen durch Kohlenmonoxid ermordet und verbrannt. Die Eltern, die im Haus Auerstraße 59 wohnten, erhielten die Nachricht, ihr Sohn sei „plötzlich an einer Grippe mit nachfolgender Hirnhautentzündung“ verstorben.

U ntergrund: Viele deutsche Juden versuchten, vor den Nazi-Schergen ins benachbarte Ausland zu entkommen. Das führte längst nicht immer zur ersehnten Rettung, so Archivar Jens Roepstorff. „Auch dort wurden die Menschen aufgespürt und dann ins KZ deportiert.“ Ei­ne erfolgreiche Geschichte aber kennt Roepstorff: Der Mülheimer Jude Herbert Cahn, der sich in Frankreich versteckt hielt, schloss sich dort dem Widerstand – der Résistance – an und bekämpfte aktiv seine ehemaligen Peiniger.

V ier, Johann (*22. Mai 1896) war der Sohn der Eheleute Heinrich und Maria Vier, geb. Gardeniers. Am 16. August 1919 heiratete er Alwine Ivens. Nach den Gestapo-Unterlagen war Vier seit 1930 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und dort als Unterkassierer tätig. Zudem war er Leiter des Spielmannszuges „Verein der Musikfreunde“, Mitglied in der Gewerkschaft „Roter Bauarbeiterverband“ sowie in der „Roten Hilfe“. Bereits am 1. März 1933 wurde er in seiner Wohnung, Wörthstraße 31, verhaftet und ins Polizeigefängnis Mülheim eingeliefert. Von dort verlegte man ihn ins Gefängnis Anrath und schließlich für einige Zeit ins KZ Börgermoor. Am 11. März 1934 wurde er erneut festgenommen; das Oberlandesgericht Hamm verurteilte ihn u.a. wegen Mitgliedschaft in der KPD zu fünf Jahren Zuchthaus. Bis November 1939 verbüßte er seine Strafe. Nahezu fünf Jahre später, am 19. September 1944, wurde er wiederum verhaftet und vom Polizeigefängnis Mülheim am 25. September 1944 in das KZ Flossenbürg deportiert. Später kam er noch ins Außenkommando im sächsischen Lengenfeld – dort aber verliert sich die Spur von Johann Vier. 1949 wurde er rückwirkend mit Datum 8. Mai 1945 für tot erklärt.

W eiß, Otto (*28. April 1902) war gebürtiger Mülheimer. Zusammen mit den Schwestern Maria, Wilhelmine und Elisabeth wuchs er in einem katholischen Elternhaus in der Sandstraße 64 auf. Auf dem humanistischen Staatlichen Gymnasium – heutige Otto-Pankok-Schule – legte er 1921 das Abitur ab, entschied sich dann für ein Jurastudium und promovierte an der Uni Münster. Als Katholik erkannte er früh die Gefahren des Nationalsozialismus. Im Jahr der Machtergreifung 1933 wurde Weiß als Regierungsrat zum Kulturdezernenten der Bezirksregierung in Aachen ernannt. Zum Abbau von Ressentiments und zur Förderung der Völkerverständigung begann er, Reisen nach Belgien und in die Niederlande zu organisieren. Als Wallfahrten hinzukamen, beendeten seine Vorgesetzten die Aktivitäten und ordneten eine Strafversetzung nach Breslau an. Dort verrichtete Weiß seinen Dienst beim Polizeipräsidenten – bis er im März 1943 als Soldat zu einer Wehrmachtseinheit nach Rumänien verlegt wurde. In ihm reifte die Überzeugung: Der Krieg ist falsch. Anonym schickte er ein Schreiben an Adolf Hitler mit der Aufforderung zum Rücktritt. Mit der Denkschrift „Auftrag zur Rettung Deutschlands“ machte er außerdem die deutsche Widerstandsbewegung – insbesondere den Kreis um Carl Friedrich Goerdeler – auf sich aufmerksam. Nach der Denunziation eines vermeintlichen Gesinnungsgenossen wurde Weiß im August 1943 bei dem Versuch verhaftet, in die Schweiz einzureisen. Am 14. Februar 1944 wurde vor dem Volksgerichtshof Anklage wegen Fahnenflucht und Hochverrats erhoben. Das Urteil – Tod durch Erhängen – wurde am 20. März 1944 in Plötzensee vollstreckt.

X/Y ungelöst: Laut Archivar Jens Roepstorff gibt es noch „viele Fragezeichen hinter jüdischen Schicksalen“. Oft kenne man zwar Namen und wisse auch, dass die Menschen deportiert worden sind – „doch unklar ist, wann und wie sie umgekommen sind“. Viele Opfer seien deshalb nach dem Krieg zu fiktiven Daten für tot erklärt worden. Einige Leidensgeschichten von Mülheimer Bürgern (auch die auf dieser Seite) konnten trotz aller Schwierigkeiten aufgeklärt werden. Sie sind zu finden unter www.stolper­steine-mh.de im Netz.

Z eppelinstraße 26: Berta Schleimer wurde am 19. Januar 1861 als Berta Groß in Loug, Kreis Marienwerder, geboren. Sie wohnte einige Jahre in Berlin und kam im Juni 1917 nach Mülheim. Sie war jüdischen Glaubens. Schleimer wohnte zuletzt im Hause der Familie Stoffel in der Zeppelinstraße 26, von wo aus sie im Juli des Jahres 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Am 26. August 1943 wurde sie dort ermordet. Ihre Tochter Rosa (*1. Dezember 1898) heiratete 1922 in Mülheim den Bauarbeiter und späteren Kohlenhändler Josef Uehlein. Trotz ihres katholischen Ehemanns wurde auch sie 1944 nach Theresienstadt deportiert. Sie aber überlebte den Holocaust.