Essen. . Eckhard Nagel ist Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Essen und Mitglied im Ethikrat des Bundestages. Und er ist Transplantationsmediziner. Ein NRZ-Gespräch über Skandale und Chancen.

Transplantationsmediziner sein und Mitglied im Ethikrat des Deutschen Bundestages – das klingt fast schon wie ein Widerspruch angesichts der sich häufenden Meldungen über Manipulationen bei der Organvergabe. Prof. Dr. Eckhard Nagel (52), seit September 2010 Vorstandschef des Universitätsklinikums Essen und engagierter evangelischer Christ, sprach mit NRZ-Chefredakteur Rüdiger Oppers und NRZ-Redakteur Stephan Hermsen über die jüngsten Skandale und die Folgen einer rein ökonomischen Betrachtung des Gesundheitswesens.

Herr Prof. Nagel, die Skandale der Transplantationschirurgie müssen Sie fürchterlich ärgern. Da gibt es endlich ein Gesetz, das uns alle zwingt, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: Will ich Organe spenden oder nicht? Und dann diese Manipulationen von Ärzten an Patientendaten…

Prof. Dr. Eckhard Nagel: Das ist für mich eine tiefe Enttäuschung. Die Erwartung bei mir war, dass das neue Gesetz Organspende zu einem Thema des Miteinanders macht, dass wir uns über andere Menschen Gedanken machen. Die Skandale, die sich seit Sommer offenbaren und das jetzt noch einmal verstärkt, sorgen dafür, dass die Organtransplantation als Ganzes wieder in Frage gestellt wird. Wer das zulässt, lässt völlig außer Acht, was das für einzelne Menschen bedeutet.

Eurotransplant, die Vergabestelle für die Mangelware „Organ“ war ja über jeden Zweifel erhaben…

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Dr. Nagel: So ist es. Dass die Vergabe dennoch manipuliert werden konnte, ist daher nicht nur bitter, sondern sehr enttäuschend. In unserem Klinikum werden wir genau registrieren, wer 2012 auf der Warteliste für ein Organ gestorben ist. Denn, und das wollen wir zeigen, es geht es nicht um Zahlen, es geht um Schicksale.

Sie kennen diese Menschen von Angesicht zu Angesicht...

Dr. Nagel: Richtig. Dass die Zahl der Organspenden jetzt drastisch zurückgegangen ist, ist das eine. Das andere ist: Man macht sich viel zu wenig klar, was das für den Einzelnen, der auf ein Organ wartet, bedeutet. Aber aus dieser Notlage ist ja der Reflex entstanden: Ich mache auf dem Papier meinen Patienten noch kränker als er ist, um ihn zu retten. Für mich war und ist das unvorstellbar. Selbst wenn da jemand helfen wollte...

…das ist ja noch der optimistische Ansatz. Es könnte auch sein, dass er die Fallzahlen seiner Klinik nach oben treiben will…

Dr. Nagel: Aber wenn ein Arzt auf diese Weise seinem Patienten hilft, schadet er doch einem anderen, der das Organ sonst bekommen hätte. Wir reden hier über Dokumente. Ich kann auch nicht jemandem aus noch so gut gemeinten Gründen einen gefälschten Pass in die Hand drücken. Damit entwerte ich langfristig alle Pässe. Wir verlieren an dieser Stelle das Fundament. Dafür kann man kein Verständnis haben. Das waren erfahrene Ärzte, Oberärzte, Chefärzte, die gewusst haben, was sie tun. Ich habe massive Sorgen, dass ein ganzer Bereich der Medizin dauerhaft geschädigt bleibt. Das Vertrauen, das da verspielt wurde. gewinnen wir nicht so einfach zurück.

Wie stellt man sicher, dass so etwas nicht wieder passiert?

Dr. Nagel: Das System war nur mit krimineller Energie auszubooten. Hier in Essen haben wir unser Vier-Augen-System auf ein Sechs-Augen-Prinzip umgestellt, abgestimmt mit den Ministerien und Behörden. Jetzt schaut zusätzlich noch ein Mediziner, der nicht aus dem Transplantationsbereich kommt, ob alle Dokumente übereinstimmen.

Das heißt, Sie schließen für das Essener Uni-Klinikum aus, dass da auch was auftaucht?

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Dr. Nagel: Bis vor einem halben Jahr hätte ich einfach gesagt: Ich bin mir sicher. Nun haben wir alles dennoch noch einmal genau überprüft, auch die Bundesärztekammer hat das getan. Insofern bin ich mir sehr sicher, dass alles den Regeln entsprochen hat. Aber ich bin, das will ich nicht bestreiten, mit Blick auf die Historie zutiefst verunsichert.

Gibt es bei den Transplantationsmedizinern Bestrebungen für eine Aufklärungskampagne?

Dr. Nagel: Vor 20 Jahren hat sich die Transplantationsmedizin einen Kodex gegeben und wir müssen feststellen, dass dieser Kodex nicht überall eingehalten wurde. Wir wollen zeigen: Wir halten uns weiter daran. Wir sind da in der Absprache mit einigen anderen Zentren. Aber zunächst müssen wir aufarbeiten, wie das passieren konnte und sagen, was wir in Zukunft besser machen werden, ehe wir für unsere Patienten aufstehen können und sagen: Jetzt erst recht!

Heißt das, Sie wollen zeigen hier sind Menschen, die brauchen ein Herz, eine Leber, eine Niere – und ihr seit diejenigen, die helfen können?

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Dr. Nagel: Die Patienten haben auch höchstes Interesse daran, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Wenn der Transplantierte daran zweifeln muss, ob er sein Organ zu Recht bekommen hat, kann er doch mit seinem neuen Herzen, mit seiner neuen Niere nicht mehr ruhig schlafen.

Mittlerweile ist das Misstrauen im Gesundheitswesen überall. Kassenpatienten fürchten: Mir wird etwas vorenthalten. Privatpatienten glauben: Ich bin das Versuchskaninchen, bei dem sich etwas verdienen lässt.

Diskussionen, die wir heute im Gesundheitswesen führen, werden immer mehr mit ökonomischen Fragen verknüpft. Das ist ein Spiegel dessen, wie sich unsere Lebenswelt verändert hat. Aus ökonomischer Sicht erscheint vieles, was wir im Gesundheitswesen tun, unverständlich. Ein Beispiel: Als Harald zur Hausen 2008 den Nobelpreis bekam für die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs, haben wir uns einen Tag lang gefreut. Dann ging die Rechnerei los: Ist es ökonomisch vertretbar, alle Mädchen zu impfen, nur weil drei von 1000 diese Krankheit bekommen? Es ist doch günstiger, diese drei Mädchen krank werden zu lassen und sie erst dann zu behandeln. Die Vorstellung „Das ist eine Überinvestition“ ist für mich irrational. Wir können es uns leisten, Fälle einer wirklich schrecklichen Krankheit zu verhindern!

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Eine Frage der Ressourcen: Riesiger Aufwand für eine extrem kleine Patientenzahl…

Das bringt uns zu der Frage: Was ist uns unsere Gesundheit wert? Zu jedem Jahreswechsel wünschen wir an erster Stelle Gesundheit, für uns, unsere Familien, unsere Kinder. Und Gesundheit kann man nur begrenzt selbst beeinflussen…

Wünschen Sie noch mehr populäre Aufklärer wie Grönemeyer, Stratmann, Eckhard von Hirschhausen?

Dr. Nagel: Wir hatten Eckhard von Hirschhausen hier zur Weihnachtsvorlesung , er arbeitet mit im Beirat für unsere neue Kinderklinik. Wenn jemand das kann: Unterhalten, für Prävention und das Gesundheitswesen werben und das auch noch inhaltlich belastbar – dann soll er das tun.

Was die Prävention angeht: Wir alle nehmen uns doch auch immer vor: Nicht mehr rauchen, trinken, weniger essen, mehr Sport treiben…

Dr. Nagel: Richtig. Aber dazu gehört auch die Vorsorge. Viele sagen sich: Besser nicht zum Arzt gehen, sonst findet der etwas. Doch sich auf diese Weise um sich selbst zu kümmern, ist Ausdruck der eigenen Wertschätzung. Ihre Frage vorhin: „Was ist uns die Gesundheit wert?“ heißt eigentlich: „Was kostet uns das?“ Hier leidet niemand, wenn wir 200 000 Euro für einen Krebspatienten ausgeben oder 100 000 Euro für eine Transplantation. Das ist aufwändig, aber unsere Gesundheitskosten sind seit 1990 nicht stärker gestiegen als das Bruttosozialprodukt. Wir fliegen Kinder mit Augentumoren nach Nizza, weil die Behandlung hier noch nicht möglich ist. Ich würde das Doppelte zahlen, um mein Kind behandeln zu lassen. Was die Solidargemeinschaft leistet, hilft doch Menschen in existenziellen Krisen.

Aber die Entsolidarisierung beginnt beim Beitragszahler. Viele fragen sich: Warum zahle ich denselben Beitrag wie ein Risikosportler, ein Raucher, ein Trinker?

Dr. Nagel: Wenn Sie gesund bleiben, ist das doch wunderbar! Die Versicherungspflicht ist eingeführt worden, weil wir denen helfen wollen, die vom Schicksal getroffen werden. Wen es trifft, können wir nicht vorhersehen. Die Beiträge sind Absicherung gegen Schicksalsschläge – für jeden.

Sie haben die Prävention angesprochen. Daher die Frage: Bei Ihren zahlreichen Verpflichtungen – wie bekommen Sie ein gesundes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit hin?

Dr. Nagel: Wir unterscheiden zwischen negativem und positivem Stress. Vieles, was ich tue, ist für mich mit Herausforderungen für Körper und Geist verbunden, also positiver Stress. Sicher gibt es auch negative Dinge, da muss ich wie jeder andere auch, meine Balance finden.

Kneipiers, Journalisten, Ärzte haben angeblich ja die geringste Lebenserwartung. Wenn wir einen Stammtisch gründen, was dürfen wir denn da trinken? Mineralwasser?

Dr. Nagel: Nun, wir finden sicherlich auch eine medizinische Begründung auch für andere Getränke…