Großbritanniens Premierminister David Cameron lässt sein Volk über den Verbleib in der EU abstimmen - und erntet für diesen innenpolitisch motivierten Schachzug europaweites Kopfschütteln. Von Paris über Berlin bis nach Brüssel hallten am Mittwoch die Warnungen zurück nach London, “Rosinenpickerei“ sei mit den Partnern auf dem Kontinent nicht zu machen.

London (dapd). Großbritanniens Premierminister David Cameron lässt sein Volk über den Verbleib in der EU abstimmen - und erntet für diesen innenpolitisch motivierten Schachzug europaweites Kopfschütteln. Von Paris über Berlin bis nach Brüssel hallten am Mittwoch die Warnungen zurück nach London, "Rosinenpickerei" sei mit den Partnern auf dem Kontinent nicht zu machen. Zuvor hatte Cameron seinen Landsleuten einen lange gehegten Wunsch erfüllt: Wählen ihn die Briten wieder, bekommen sie spätestens Ende 2017 ein "Rein-Raus-Referendum" - aber erst, nachdem seine konservativen Tories das politische Verhältnis zur EU selbst neu verhandelt haben.

"Wenn diese neue Übereinkunft erreicht ist, geben wir dem britischen Volk ein Referendum mit der ganz einfachen Wahl: rein oder raus", kündigte Cameron in seiner mit Spannung erwarteten europapolitischen Grundsatzrede an. Entweder könne Großbritannien dann "zu diesen neuen Bedingungen in der EU bleiben - oder ganz austreten".

Den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, brachten diese Worte gehörig auf die Palme. Der Brite wage "ein gefährliches Spiel aus taktischen, innenpolitischen Gründen", schimpfte der Deutsche. Wer sich aus den EU-Verträgen ein individuelles Menü zusammenstelle, schaffe damit einen riskanten Präzedenzfall, der zum Zerfall der Union führen könne. Mit politischen Zugeständnissen dürfe Cameron jedenfalls nicht rechnen: "Das war eine nach innen gerichtete Rede, die Europas Realität verkennt und nicht viele von Großbritanniens Partnern beeindrucken dürfte." EU-Kommissionschef José Manuel Barroso strafte Cameron gar mit demonstrativer Nichtbeachtung.

Camerons Kehrtwende könnte Abkehr von Europa einleiten

Auch die Bundesregierung beurteilt Camerons Pläne skeptisch. Europa sei mehr als eine bloße Bündelung nationaler Interessen, nämlich eine "Schicksalsgemeinschaft", diktierte Außenminister Guido Westerwelle (FDP). "Rosinenpickerei ist keine Option." Der französische Außenminister Laurent Fabius griff zu einem sportlichen Vergleich: "Wenn man einem Fußballverein beitritt, kann man nicht sagen, dass man Rugby spielen möchte", sagte er dem Radiosender France-Info. Auch Spitzenpolitiker aus Schweden, Finnland und anderen EU-Ländern reagierten pikiert auf die Wortmeldung aus London.

Bislang hatte Cameron nicht die EU-Mitgliedschaft als solche infrage gestellt, sondern bloß das "wie". Ein "Rein-oder-Raus-Referendum" würde "nicht die richtige Frage stellen" und "nicht die richtige Antwort bringen", hatte er noch Anfang Januar erklärt. Nun gab der Premier dem Druck des europaskeptischen Flügels seiner eigenen Partei und öffentlichen Unmut über "Brüssels Bürokraten" nach. Plötzlich ist Cameron nur noch gegen eine Sofortabstimmung, "bevor wir eine Chance hatten, das Verhältnis einzurenken" - und sich die Eurozone aus der Währungs- und Schuldenkrise halbwegs befreit hat.

Die Ernüchterung über die EU habe ein "Allzeithoch" erreicht, begründete Cameron seine Kehrtwende, die Zustimmung zum europäischen Verbund sei inzwischen nur noch "hauchdünn". Ginge es nach ihm, sollte die "neue" Europäische Union deshalb auf fünf Säulen ruhen: Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilität, Rückgabe politischer Kompetenzen von Brüssel an die Hauptstädte, demokratische Kontrolle und Fairness. Sofern diese Prinzipien in einer neuen Übereinkunft respektiert würden, könnten die Briten noch "in der ersten Hälfte" der nächsten Legislaturperiode abstimmen, also zwischen 2015 und Ende 2017.

"Wir können nicht alles harmonisieren"

"Länder sind verschieden", sagte Cameron, der ein einheitliches EU-Regelwerk für alle Mitgliedstaaten ablehnt, die EU-Verträge ändern und nationale Kompetenzen zurückerobern will. "Sie treffen unterschiedliche Entscheidungen. Wir können nicht alles harmonisieren."

Die Abgeordneten der CDU und CSU im EU-Parlament hielten mit einer gemeinsamen Stellungnahme dagegen: "Cameron fordert de facto einen Binnenmarkt à la carte, sagt aber gleichzeitig, Europa müsse wettbewerbsfähiger werden. Das geht nicht zusammen." Und auch Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer schlug am Mittwoch warnende Töne an: "Für die EU wäre ein Austritt Großbritanniens ein herber Rückschlag, für die Briten ein veritables Desaster", schrieb der Grünen-Politiker in der "Süddeutschen Zeitung".

Die Aussicht auf ein Referendum und die Möglichkeit eines EU-Austritts besänftigt zwar Camerons europaskeptische Kritiker in der Heimat. Zumal 56 Prozent seiner Landsleute laut jüngsten Umfragen für einen "Brexit" sind - einen britischen EU-Austritt. Sowohl in Großbritannien selbst als auch international wächst aber die Angst, der bedrängte Premierminister könne sein Land aufs politische Abstellgleis manövrieren.

Zwar bemühte sich Cameron erneut um Klarstellung, dass er persönlich ja gar keinen EU-Austritt befürworte, sondern bloß bessere Konditionen für sein Land herausschlagen wolle. Aber mit dem jetzt versprochenen Referendum ist seiner Regierung - oder der nachfolgenden - die letzte Kontrolle entzogen. Was für verheerende Konsequenzen ein "Nein" der Briten haben könnte, ist auch Cameron bewusst, wie eine Passage seiner Rede verriet. Darin heißt es: "Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir in Washington, Peking und Neu-Delhi machtvoller auftreten können, weil wir ein gewichtiges Mitglied der EU sind."

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