Essen. . Das Studium ohne Abitur oder Fachhochschulreife erlebt einen Boom. Immer mehr Berufstätige suchen den Quereinstieg zum Studium. NRW führt bundesweit den Trend an. Das liegt auch an der Anziehungskraft der Fern-Universität Hagen.
Mit 15 hatte er die Nase voll von der Schule: „Ich wollte nie wieder eine Bildungseinrichtung von innen sehen“, erinnert sich Fred Luks. Es war der pure Schulfrust, „ich war ein saumäßiger Schüler“. Er absolvierte eine Ausbildung als Verwaltungsangestellter, fand eine Stelle und richtete sich ein mit Wohnung, Auto und Einkommen. „Das hätte bis zur Rente so weiter gehen können“, sagt er.
Doch dann engagierte er sich in der Politik und merkte: „Dafür muss ich mehr wissen, da geht noch was.“ Für ihn war es ein Sprung ins kalte Wasser: Die Sicherheit des Jobs aufgeben, vom Dorf in die Großstadt Hamburg ziehen, und die Frage: Kann ich das? Dann ging es ruckzuck: Er studierte Ökonomie, „baute“ seinen Doktor, leitete Forschungsprojekte an der Uni und wurde schließlich Nachhaltigkeitsmanager bei der Bank Austria. „Mein Lebensweg hat sich durch die Bildungsmöglichkeit dramatisch verändert“, sagt er heute.
Studium ohne Abi erlebt einen Boom
Wie ihm geht es immer mehr Berufstätigen. „Das Studium ohne Abitur oder Fachhochschulreife erlebt einen Boom“, sagt Sigrun Nickel vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) bei einer Tagung in Essen. „Viele merken irgendwann nach dem Berufseinstieg, dass sie noch einmal durchstarten wollen“, so Nickel, dass sie wie Fred Luks eine Bildungschance verpasst haben – und suchen den Weg an eine Hochschule. Andere bemerken, dass sie auf der beruflichen Karriereleiter ohne ein Studium nicht mehr weiter kommen und verbessern durch ein Studium ihre Aufstiegschancen.
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NRW führt bundesweit den Trend an. „Der Anteil beruflich qualifizierter Studienanfänger ist im Bundesvergleich einsame Spitze“, ermittelte das CHE. Die Zugangsbedingungen sind hier vergleichsweise offen gestaltet: So kann ein Meister an einer Hochschule seiner Wahl ein Studium aufnehmen. Er besitzt wie ein Abiturient die „Allgemeine Hochschulzugangsberechtigung“. Wer eine zweijährige Berufsausbildung abgeschlossen hat und mindestens drei Jahre in seinem Job gearbeitet hat, darf ein verwandtes Fach studieren („fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung“). Eine gesonderte Eignungsprüfung ist nur dann nötig, wenn der Bewerber ein nicht verwandtes Studienfach wählen will.
Verschlungene Bildungswege
Dass NRW auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle besitzt, liegt auch an der Anziehungskraft der Fern-Universität Hagen. Hier haben fast 39 Prozent aller Studienanfänger weder Abitur noch Fachhochschulreife – ein einsamer Spitzenwert, liegt der Schnitt an Unis doch bei nur knapp zwei Prozent. Auf den Plätzen zwei und drei folgen die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und die Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen, die berufsbegleitende Studiengänge anbietet.
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„Das Abitur ist zwar immer noch der Königsweg zum Studium“, sagt Sigrun Nickel, aber es gebe ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Bildungsbiografien nicht immer gradlinig verlaufen. Die Hochschulen seien gefordert, mit Angeboten und Brückenkursen darauf zu reagieren. Ähnlich sieht es NRW-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD): „Ein Studium ohne Abitur muss selbstverständlich werden. Das müssen wir zusammen mit den Hochschulen schaffen“, sagte sie auf der Tagung.
Gezielte Angebote
Entscheidend für eine bessere Durchlässigkeit von beruflicher und akademischer Bildung sind flexible Studienzeitmodelle, Online-Seminare sowie Einstiegs- und Brückenkurse. In den Dschungel von Regelungen wollen CHE und Stifterverband mit dem neuen Internet-Portal „www.studieren-ohne-abitur.de“ eine Schneise schlagen. Und: „Die Professoren müssen sich künftig auf andere, untypische Studenten stärker einstellen“, fordert Nickel.
So wie Tina Siebert. „Ich bin vermutlich die einzige Jurastudentin an der FU Berlin ohne Abi“, meint sie. „Die Professoren wissen gar nicht, dass es meinen Fall gibt.“ Und auch viele ihrer Mitstudenten seien überrascht, dass dies geht: ein Jurastudium ohne Abitur. Der Weg dorthin war für die 27-Jährige nicht einfach. Ihr Ziel war immer der Hörsaal, doch nach der Realschule merkte sie, wie groß ihre Lücken waren. Dennoch schaffte sie es mit Ausdauer und Hartnäckigkeit, absolvierte die Ausbildung zur Justizfachwirtin, arbeitete in ihrem Beruf, polierte nebenher ihre Englischkenntnisse auf. Dann war der Weg an die Uni frei. „Wenn alles klappt, will ich Richterin werden.“