Düsseldorf. Seit dem Verfassungsgerichtsurteil von 2010 zur Speicherdauer elektronischer Verbindungsdaten erhält die NRW-Polizei kaum noch Datensätze von Telefon- und Internetnutzern. Trotz konkreter Anforderungen in Verdachtsfällen stecken die Fahndungen damit oftmals fest.

Erfahrene Kriminal­beamte wie Markus Röhrl kennen Erfolge und Fehlschläge. Erfolge wie die Aufklärung eines Bonner Doppelmordes 2011, weil die Handy-Signale des Täters und eines der Opfer zeitgleich im belgischen ­Mobilfunknetz gespeichert waren.

Fehlschläge wie bei Ricardo Corvo. Spaziergänger fanden Corvos ­Leiche im Januar 2010 am Rand der A 59 in Leverkusen. Sie steckte in einem blauen Müllsack. Man hatte den Italiener, nach dem international wegen brutaler Straftaten gefahndet wurde, erschlagen und aus einem fahrenden Auto über die Leitplanke geworfen.

Monatelang ermittelte damals die nordrhein-westfälische Polizei. Sie kam Mafia-Killern auf die Spur. Doch den drei Mordverdächtigen war die Tat nicht nachzuweisen.

Weil deutsche Telefonanbieter Verbindungsdaten – anders als ihre belgischen Kollegen im Bonner Fall – nicht herausgeben konnten, blieb am Ende offen, ob sich die mutmaßlichen Mörder zur Tatzeit mit ihren Mobiltelefonen in derselben Funkzelle aufgehalten hatten.

Speicherverbot für Verbindungsdaten mit Folgen

Markus Röhrl ist Abteilungs­leiter im Landeskriminalamt. ­Seine große Sorge: Im März 2010 verbot das Bundesverfassungs­gericht den Telefon- und Internetanbietern aus Gründen des Datenschutzes, die Verbindungsdaten ihrer Kundschaft zu speichern.

Seit diesem Urteilsspruch fehlt der ­Polizei an Rhein und Ruhr oft der Einstieg in erfolgversprechende Fahndungen. Ermittlungen der NRW-Polizei gegen Kinderschänder, gegen Trick- und Internet- ­Betrüger werden immer schwie­riger, sagt Röhrl. Manchmal sind sie unmöglich. Aufklärungsquoten sinken. „Wenn wir Anbieter nach Verbindungsdaten fragen, um Verbrechen aufzuklären, erhalten wir meist keine Antwort.“ Dabei müsse er doch wissen: „Wer hat wann wo mit wem kommuniziert?“

Richter forderten besseres Gesetz

Die Richter haben die so genannte Vorratsdatenspeicherung nicht generell verboten. Ihr Signal war ein anderes: Die einschlägige ­Gesetzesgrundlage ist grottenschlecht, macht eine neue! Doch die Koalition in Berlin hat sich darauf nicht einigen können, obwohl die EU-Kommission in der Sache schon ein Strafgeld gegen die Bundesregierung androht.

Also speichern die Provider die Daten zu Abrechnungszwecken nur noch wenige Tage. Und gar nicht mehr dort, wo Flatrate-Verträge vorliegen. Sie müssen die Daten auch niemandem herausgeben.

Lebensrettende Ermittlungen können jetzt in der Sackgasse ­enden, warnt Röhrl. Eine dieser wegen fehlender Rechneradressen nicht geschlossenen Akten ist ein brisanter Fall: Es geht um mögliche Kinderschändungen. Seit 2011 hinterlässt der Fall im Netz Spuren. Kinder wurden dort als Sex-Ob­jekte angeboten. Monate später folgten Vergewaltigungsszenen. Fahnder fragen: Sind die „Angebote“ von 2011 die Opfer von 2012?

Die Opfer des Enkeltricks

Wissen über Zeitpunkt und Partner einer Kommunikation zu ­gewinnen, ist für die Ermittlungsbehörden für andere neuartige Verbrechens-Varianten genau so wichtig: Beim „Enkeltrick“, beim ­Betrug im Internet-Banking oder bei elektronischen Erpressungen.

Zwischen 2006 und Ende 2011 registrierte das Landeskriminalamt 3500 Versuche jugendlicher Täter, ältere Menschen am Telefon um ihre Ersparnisse zu bringen. Sie geben sich als der Enkel aus, der dringend einen hohen Bargeld-Betrag braucht – und oft erhält: 537 Mal gelang der Coup. Landesweit büßten teils hochbetagte Herrschaften fünf Millionen Euro ein.

Röhrl: „Viele Betrogene melden sich bei der Polizei nach Wochen, weil sie es dann erst gewagt haben, den Enkel auf die erfolgte Zahlung anzusprechen. Für uns ist das zu spät. Verbindungsdaten, die zum Täter führen, sind dann gelöscht“.

Kriminalisten aus Bund und Ländern sammeln Ermittlungspleiten

Bundes- und Landeskriminalämter legen nach Informationen der WAZ-Gruppe nun eine Datei mit ­fehlgeschlagenen Ermittlungen in ­Fällen schwerer Kriminalität an, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im März 2010 aufgefallen sind. Sie wollen damit eine vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Untersuchung des Max-Planck-Instituts kontern. Die war zum Ergebnis gekommen, die Polizei brauche in den meisten Fällen keine Verbindungsdaten, um Verbrechen aufzuklären.

Was sind Verbindungsdaten? Jedes Telefonat und jede Verbindung im Internet hinterlässt elektro­nische Spuren. Mit der IP-Adresse, die oft aus vier Zahlen zwischen 0 und 255 besteht, die durch einen Punkt getrennt werden, können Absender und Adressat einer Internetbotschaft sowie Zeitpunkt und Dauer der Kommunikation fest­gestellt werden. Ähnliche Angaben gibt es im Telefonbereich. Inhalte bleiben immer außen vor.

Streit zwischen Ministern und Praktikern geht weiter

Seit dem Speicherverbot (außer zur Abrechnung) durch die Richter verhärten die Fronten. Bundes­justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar halten eine längere anlasslose Speicherung der Verbindungsdaten für einen unverhältnis­mä­ßigen Eingriff in die Privatsphäre.

Leutheusser schlägt als Kompromiss vor, Internet-Verbindungsdaten sieben Tage aufzubewahren. Im Einzelfall und auf Antrag der Justiz sollen weitere Daten in ­diesem „Quick Freeze“-Verfahren gespeichert werden dürfen.

Sicherheitsbehörden, Bundes­innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und sein NRW-Kollege Ralf Jäger (SPD) halten das für ­praxisfremd. Sie stimmen mit der EU-Kommission überein, die eine sechsmonatige Aufbewahrung ­verlangt und Berlin mit Strafgeld droht, falls es die Brüsseler Richt­linie nicht umsetzt. Auch die Uno ist für die längere Speicherung.