Washington.. Nach dem Amoklauf von Newtown ist Barack Obama der Trostspender der Nation. In der Aula der Highschool von Newtown sprach der US-Präsident das Wort „Waffengesetze“ nicht aus. Aber jeder wusste, was gemeint war, als er sagte, tausende Opfer von Waffengewalt „dürfen nicht der Preis unserer Freiheit“ sein.
Die Sonne vom Wochenende hat sich verzogen. Wie aus Scham. Kalter Nieselregen liegt über Newtown. Der Himmel ist so grau wie eine Tiefgaragendecke, als Rabbi Shaul Praver am Mittag vor seiner bisher schwersten Prüfung steht. Noah Pozner. Sechs Jahre alt. Geworden vor drei Wochen, gestorben am Freitag.
Das erste Kind aus der Sandy-Hook-Grundschule, das nach dem Massenmord von Adam Lanza beerdigt wird. Jack Pinto, ebenfalls sechs, ist eine Stunde später an der Reihe. 18 weitere folgen. Achtzehn. Ein quälender Trauermarathon, der nicht enden wird, bevor die Christenheit die Geburt des Heilands feiert.
Rabbi Praver will den Eltern geben, was er „spirituelles Morphium“ nennt. Mehr gehe nicht. Und selbst die Höchstdosis kann den Schmerz nur für den Augenblick lindern. Aber der Augenblick ist wichtig in dieser verwirrten und aufgewühlten Kleinstadt im beschaulichen Connecticut, die auch am Tag drei nach der Tragödie weiter fragte: Warum?
Präsident Obama findet sich wieder in der Rolle des Trostspenders
Barack Obama hat es am Vorabend erst gar nicht versucht mit einer Antwort. Welchen Sinn kann der zigfache Tod auch haben in einem Haus, in dem die Jüngsten für das Leben lernen? Zum vierten Mal in vier Jahren übernahm Amerikas Präsident nach nationalen Gewaltorgien eine Rolle, die ihm selbst seine Feinde nicht wünschen. „Comforter in Chief“, oberster Trostspender der Nation. Erst als Vater und Ehemann im Privaten für jene, denen alles genommen wurde. Dann, vor knapp 1000 Einwohnern in der Aula der Highschool von Newtown, als Präsident und Lotse in schwerster Stunde.
Massaker„Wir haben mit euch geweint“
Obama beließ es diesmal nicht beim Erwartbaren in der Tonlage „Ihr seid nicht allein, auch unsere Herzen sind gebrochen, wir haben mit euch geweint.“ Der Tod der Kinder von Newtown hat den Präsidenten im Inneren radikalisiert, entschlossen gemacht, zu ändern, was viele für unabänderlich halten. Das Wort „Waffengesetze“ fiel nicht ein einziges Mal. Aber jeder im Saal wusste, was gemeint war, als Obama sagte: „Wir können das nicht länger tolerieren, diese Tragödien müssen ein Ende haben.“ Tausende Opfer von Waffengewalt „dürfen nicht der Preis unserer Freiheit“ sein. „Alles“ in seiner Macht stehende werde er tun, um Katastrophen wie Newtown in Zukunft zu verhindern. „Unsere erste Aufgabe ist es, die Unversehrtheit unserer Kinder zu gewährleisten. Wenn wir das nicht schaffen, schaffen wir gar nichts.“
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Der kaum verschleierten Kampfansage des Präsidenten an die mächtige, seit Tagen schweigende Waffen-Lobby folgten Applaus, Tränen und praktische Ankündigungspolitik. Diane Feinstein, Kaliforniens ehrbare Senatorin der Demokraten, wird beiden Kammern des Parlaments im neuen Jahr ein Gesetz vorlegen, das den Verkauf militärischer Schnellfeuerwaffen verbieten würde, wie sie Adam Lanza benutzt hat. Machen die Republikaner mit? Fraglich.
Lanza bleibt einstweilen ein Rätsel. Paul Vance, der Polizeisprecher, sagt am späten Morgen, nach wie vor seien weder Tathergang noch Motiv verlässlich geklärt. Die Fahnder sprächen mit jedem, der die Vergangenheit des 20-jährigen Massenmörders ausleuchten könne. Manches gerät bereits an die Medien. So erfährt die Welt, dass der dürre Mann mit den eingefallenen Wangen einen hohen Intelligenzquotienten gehabt haben muss. Mit 16 schrieb er sich an der Western Connecticut State-Universität ein. Amerikanische Geschichte, Makro-Ökonomie, Computer-Wissenschaften – und Deutsch.
Adam Lanza war wortkarg und unnahbar
Das war, als sich Mutter und Vater scheiden ließen. Lanzas Krankheit, das Asperger-Syndrom, eine psychische Störung, die mit mangelnder Empathie und dem Nichterkennenkönnen sozialer Signale beschrieben werden kann, soll sich seither verschärft haben, sagten Freunde von Nancy Lanza dem TV-Sender NBC. Zuletzt habe die 52-Jährige die Sorge gehabt, ihren Sohn „zu verlieren“. So vergrübelt, wortkarg und unnahbar habe sich der Computer-Fan gebärdet.
War darum in Kürze der Umzug an die andere Seite Amerikas, nach Washington State, geplant, von dem der „Hartford Courant“ schreibt? War es der geplante Ortswechsel, der Lanza aus der Bahn warf und ihn seine Mutter mit vier Kopfschüssen im Bett töten ließ, bevor er die Kinder hinrichtete?
Im Restaurant „My Place“ in Newtown wird Mark Tambascio diese Frage immer wieder gestellt. An der Bar des netten Lokals hat Nancy Lanza oft gesessen und über die Boston Red Sox geschwärmt, ihren Lieblingsbaseball-Klub. „Sie war eine gute Mutter, eine kluge, lebenslustige Frau“, sagt er. Dass sie Waffen schätzte, zur Selbstverteidigung und zum kontrollierten Zeitvertreib auf der Schießanlage, dass sie ihrem Sohn Respekt vor und Sachkunde im Umgang mit Waffen vermitteln wollte, ist hier bekannt. Von einer Mutter in Not, der ihr Sohn nach Deutung von Ermittlern „völlig entglitten sein muss“, weiß niemand etwas.
Trittbrettfahrer kündigen Amokläufe an
Nach dem Massenmord an der Sandy-Hook-Grundschule hat die Polizei in vielen anderen US-Bundesstaaten gestern die Sicherheitsvorkehrungen an Schulen kurzfristig verstärkt. In Los Angeles wurde nach Angaben von Polizeichef Charlie Beck ein Mann festgenommen. Er hatte auf Facebook einen Amoklauf in einer Schule angekündigt. In seiner Wohnung wurden mehrere Waffen und Munition gefunden.
Die Angst vor Trittbrettfahrern ging gestern auch in unmittelbarer Nähe des Schauplatzes der Tragödie vom vergangenen Freitag um, als 20 Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren von dem 20-jährigen Adam Lanza erschossen wurden. In Ridgefield und Redding, 15 bis 30 Kilometer von Newtown entfernt, wurden alle Schulen zeitweilig geschlossen. Die Polizei suchte nach einem verdächtigen Mann, der bewaffnet sei, sagte ein Behördensprecher