Newtown.. Nach dem Amoklauf in Newtown kündigt US-Präsident Barack Obama so klar wie nie zuvor Gegenmaßnahmen an. In einer bewegenden Rede sorgte er mit einer Anekdote für Zuversicht: Ein Erstklässler, sagt er, hat auf dem Siedepunkt des Massakers seine Klasse mit den Worten beruhigt – „Ich kann Karate, ich führe uns hier heraus“.
Niedergeschlagen sieht er aus. Schmal und blass das Gesicht, die Haare grauer als sonst. Kein Strahlen mehr in den Augen. Nur Fragezeichen, Ohnmacht und Zorn. Man sieht Barack Obama die gewaltige Last an, als er am Sonntagabend mit langsamen Schritten und gesenktem Blick auf die Bühne der Aula der städtischen Highschool in Newtown steigt. Wieder muss Amerikas Präsident in eine Rolle schlüpfen, um die ihn selbst seine Feinde nicht beneiden.
Obama ist Oberkommandierender der Streitkräfte. Aber er ist auch „Comforter in Chief“, oberster Trostspender der Nation. 2009 richtete er die Menschen in Texas, Fort Hood, auf, wo ein Geistesgestörter auf einer Army-Basis 13 Menschen tötete. Zwei Jahre später, diesmal sechs Tote, war Obamas Trost in Tucson/Arizona gefragt. Im Frühjahr 2012 dann Aurora, Colorado, wo James Holmes eine „Batman“-Premiere zur Kino-Hölle machte: zwölf Tote.
In Newtown galt schon die Beschädigung eines Briefkastens als Verbrechen
Gestern Abend der bisher schwierigste Auftrag. Newtown, Connecticut, ein Städtchen, das über Jahre so friedlich und verschlafen war, dass schon die Sachbeschädigung eines Briefkastens als Verbrechen galt. Aus heiterem Himmel dann plötzlich 26 Tote, darunter 20 Kinder. Erschossen von einem zu lange mit sich allein gelassenen Geisteskranken, der sich am Ende selber richtete.
Bevor Obama hinter das kleine Stehpult mit dem Präsidentensiegel tritt, vor dem 26 Kerzen in Erinnerung an die Opfer stehen, hat er sich abseits der Fernsehkameras Zeit genommen für jene, denen die Schüsse aus dem teuflischen Schnellfeuergewehr vom Typ AR-15 von Adam Lanza alles genommen haben. Er hat geschwiegen und zugehört und getröstet und geweint. Nicht als Präsident, als zweifacher Vater und Ehemann. Jetzt aber, es ist 20.30 Uhr, schaut die ganze Nation live zu. Sie will sich aufrichten an einem, der selber Halt sucht im Angesicht einer Monstrosität, für die das passende Attribut wohl nie gefunden wird.
Opfer von Waffengewalt dürfen „nicht der Preis unserer Freiheit“ sein
Natürlich weiß auch Obama keine schlüssige Antwort auf die eine Frage – warum? Warum dieses Töten? Welchen Sinn hat der Tod von 26 Menschen in einem Haus, in dem die Jüngsten für das Leben lernen? Wofür steht all das Blut, das ein 20-jähriger Eigenbrötler mit offenkundig schwersten psychischen Deformationen über diese typische amerikanische Kleinstadt in den Hügeln von Neu-England gebracht hat? „Verliert nicht das Herz“, zitiert Obama zu Beginn aus der Bibel und bietet den Menschen von Newtown die „Liebe und das Gebet einer ganzen Nation an“. Dass Worte „eure verletzten Herzen nicht heilen können“, dass nichts wiederbringen kann, was für immer verloren bleibt, ist ihm bewusst. Aber „ihr seid nicht allein in eurem Schmerz, auch unsere Herzen sind gebrochen, wir haben mit euch geweint“, sagt er und schluckt. Und welche Hilfe „wir auch immer geben können, um euer Los zu lindern, wir werden sie geben“.
Obama stellt mit schnörkellosen, Mut machenden Worten heraus, wie sehr die Kleinstadt nordöstlich von New York in den ersten 48 Stunden nach der Katastrophe das ganze Land inspiriert habe – „durch Stärke, Entschlossenheit und Opferbereitschaft“. Als er die Namen der Direktorin und der Lehrerinnen nennt, die gestorben sind, damit ihre Schutzbefohlenen leben, geht ein Schluchzen durch den restlos überfüllten Saal. Obama stockt kurz die Stimme. Als er sie wiederfindet, gelingt ihm ein heiterer Moment. Ein Erstklässler, sagt er, hat auf dem Siedepunkt des Massakers seine Klasse mit den Worten beruhigt – „Ich kann Karate, ich führe uns hier heraus“. Leises Lachen. Dann wird es ernst.
Für eine Sekunde wird der Präsident eiskalt
„Wir als Nation haben uns einigen harten Fragen zu stellen“, leitet der Präsident die vielleicht bemerkenswerteste Ankündigung seiner auslaufenden ersten Amtszeit ein. „Unsere vornehmste Aufgabe ist es, die Unversehrtheit unserer Kinder zu gewährleisten. Wenn wir das nicht schaffen, schaffen wir gar nichts.“ Rhetorischer Natur ist seine folgende Frage: Ob Amerika von sich sagen kann, alles, wirklich alles zu tun, um den Kindern, allen Kindern, die Chancen und die Sicherheit zu geben, die sie brauchen, um das Leben zu meistern? „Die Antwort ist: Nein.“ Mit Blick auf die vierte große Tragödie durch Schusswaffen seit seinem Amtsantritt wird Obama für eine Sekunde eiskalt. „Wir können das nicht länger tolerieren, diese Tragödien müssen ein Ende haben.“ Auch wenn kein einzelnes Gesetz auf Anhieb das Böse aus der Welt verbannen könne, sei dies keine Entschuldigung für Nichtstun. „Wenn nur ein Kind unbehelligt bleibt“ (unausgesprochen: durch gesetzliche Verschärfungen beim Waffenverkauf, durch den Bann von besonders maliziösen Mordwerkzeugen), dann „haben wir die Verpflichtung, das zu versuchen“.
Obama stellt unmissverständlich fest, dass Tausende Opfer von Waffengewalt „nicht der Preis unserer Freiheit“ sein dürfen. „Wir können das nicht als Routine hinnehmen.“ Er werde alles tun, was in seiner Macht stehe, um Katastrophen wie die in Newtown in Zukunft zu verhindern. „Wer hier eine Kampfansage an die Waffen-Lobby herauslesen wollte“, kommentiert kurz darauf ein Analyst auf dem Sender CNN, „der liegt gewiss richtig.“ Obama erspart sich und den Zuhörern nichts. Mit Bedacht und Respekt liest er am Ende der von Vertretern aller großen und größeren Religionen eingeleiteten Trauerfeier die Namen der toten Schülerinnen, Schüler und Lehrerinnen vor. Einen nach dem anderen. Der Name Adam Lanza kommt ihm nicht einmal über die Lippen. Im Publikum fließen Tränen. Dann langer Applaus.
Bis Weihnachten jeden Tag Kinder-Begräbnisse
Der Präsident hat den Menschen in Newtown Kraft gegeben. Sie werden sie brauchen. Wenig später stehen viele bei Kerzenlicht unten in der Stadtmitte, wo der kleine Fluss Pootatuck fließt, zusammen, lassen den Tag Revue passieren, umarmen sich still und tauschen letzte Neuigkeiten aus. Dass Adam Lanza noch mehr Menschen töten wollte (in der Sandy Hook-Schule wurden mehrere unbenutzte Munitions-Magazine und eine vierte Waffe gefunden) nehmen die meisten genauso stoisch zur Kenntnis wie die Nachricht, dass der Massenmörder, nachdem er seiner schlafenden Mutter viermal in den Kopf schoss, seinen Computer beschädigte. Offenbar, um Spuren zu vernichten. Für Aufregung und herzzerreißende Szenen sorgt die Aussicht auf das, was kommt und sich bis Weihnachten Tag für Tag wiederholen wird. Trauerfeiern. Kinder-Begräbnisse.
Noah Pozner macht am heutigen Montag den Anfang. Vor drei Wochen wurde der kleine Junge sechs. Warum er und die anderen sterben mussten, was das Motiv des Täters war? Niemand weiß es bislang.