Kairo. . Die Muslimbrüder haben das Land in eine Sackgasse geführt – eine Analyse von Martin Gehlen

Knallende Sektkorken, das kennen Ägyptens Islamisten bekanntlich nicht. Aber auch sonst gab es nichts zu feiern nach der ersten Runde des Verfassungsreferendums. Die Zustimmung der Bevölkerung liegt bei mageren 56 Prozent. Das oppositionelle Lager erweist sich als überraschend stark, trotz offenbar grassierender Wahlverstöße, Stimmenkäufe und Urnen-Manipulationen. In der Metropole Kairo verweigerte sich fast zwei Drittel der Bürger dem islamistischen Verfassungsprojekt, auf der anderen Nilseite in Giza könnte die Resonanz nächste Woche ähnlich ausfallen. Ein Ja für die Verfassung ist ein Ja für den Islam – solche simplen Parolen ziehen allenfalls noch auf den Dörfern, wo viele Analphabeten leben. Ägyptens Stadtbevölkerung jedoch geht auf Distanz – am deutlichsten in der Hauptstadt, dem politischen Nervenzentrum des Landes.

Den gesamten Staat zerlegt

Eine Ägypterin wirft ihren Wahlzettel für das Verfassungsreferendum in eine Wahlrurne.
Eine Ägypterin wirft ihren Wahlzettel für das Verfassungsreferendum in eine Wahlrurne. © REUTERS

Noch fehlt das Votum der zweiten Hälfte Ägyptens, was nächsten Samstag folgt. Und wie es aussieht, werden die Islamisten ihre Verfassung am Ende wohl mit Ach und Krach über die Bühne bringen. Doch zu was für einem Preis? In den letzten drei Wochen haben Mohammed Mursi und seine Muslimbrüder praktisch den gesamten Staat und seine Institutionen zerlegt. Der Präsident ist in seiner Autorität beschädigt, die Regierung als ein Verein von Amateuren desavouiert. Vor dem Verfassungsgericht schieben nach wie vor Islamisten drohend Wache und hindern die Obersten Richter an ihrer Arbeit. Die vom Premierminister tagsüber ausgerufene Steueranhebung pfiff der Staatschef zwei Uhr nachts per Facebook wieder zurück. Bis zu den Parlamentswahlen im Frühjahr soll alles in der Schublade verschwinden. Der Schlüsselkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) liegt damit weiterhin auf Eis und mit ihm die dringend benötigten Folgekredite anderer Geldgeber. Die ägyptische Währung geht bereits in die Knie. Und für die sozialpolitisch weitaus heiklere Kürzung der Milliardensubventionen für Sprit und Kochgas fehlen der Regierung inzwischen die Nerven.

Dafür grassiert die politische Gewalt. Salafisten belagern den Fernseh-Medienpark am Rande der Stadt und rufen verschlüsselt zum politischen Mord auf. Jeden Tag schlachten sie symbolisch eine Ziege, die sie ElBaradei, Sabahi oder Moussa nennen – nach den Spitzenpolitikern der Opposition. Am Wochenende überfielen ihre bärtigen Schläger die Parteizentrale der alten liberalen Wafd-Partei mitten im Zentrum Kairos. Der neu ernannte Generalstaatsanwalt schwadroniert von revolutionärer Justiz. Während der Krawalle vor dem Präsidentenpalast versuchten Greiftrupps der Muslimbrüder, aus Anti-Mursi-Demonstranten herauszuprügeln, sie seien vom alten Regime bezahlte Schläger. Im Gegenzug gingen 35 Parteibüros der Muslimbrüder in Flammen auf, darunter auch die nagelneue Zentrale im Kairoer Stadtteil Muqqattam.

Zwei Jahre nach der Revolution auf dem Tahrir-Platz haben die Muslimbrüder mit ihrem machtversessenen Verfassungsdrama Ägypten in eine gefährliche Sackgasse hineinmanövriert. Wirtschaftlich hat das Land nichts mehr zuzusetzen. Politisch ist es gelähmt wie nie zuvor. Und die Gesellschaft trudelt hilflos dem heraufziehenden Haushaltsnotstand mit fast zwangsläufigen sozialen Turbulenzen entgegen. Mit traditionellen Moralforderungen nach Scharia, Vielehe oder Alkoholverbot ist in Ägypten kein Staat mehr zu machen. Zu Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung und staatlicher Sozialpolitik dagegen schweigt sich die Islamisten-Verfassung weitgehend aus. Islam ist die Lösung – mit dieser quasi-göttlichen Verheißung waren die Muslimbrüder nach dem Sturz Mubaraks politisch angetreten. Dem wird nun eine sehr irdische Ernüchterung folgen.