Berlin. . Auch Kirchenmitarbeiter dürfen nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts unter bestimmten Bedingungen streiken. Die Entscheidung des Gerichts in Erfurt betrifft über 1,2 Millionen Arbeitnehmer vor allem von Caritas und Diakonie. Bisher sind bei den beiden großen christlichen Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas Streiks verboten.
Ein Etappensieg für die Gewerkschaft. Mehr nicht, aber immerhin: Mit dem gestern verkündeten Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist das Ende eines jahrzehntealten kirchlichen Sonderrechts, die Beilegung jahrelanger juristischer Streitigkeiten, einen großen Schritt näher gekommen. Kirchlich Beschäftigten darf das Streikrecht nicht generell versagt bleiben, finden die Richter in Erfurt.
Eine Entscheidung von grundsätzlichem Gewicht, galt es doch, zwei Verfassungsprinzipien gegeneinander abzuwägen. Die in Artikel 9 fixierte Koalitionsfreiheit, die Arbeitnehmern den Zusammenschluss in Gewerkschaften und diesen das Streikrecht garantiert. Und Artikel 140, wo es in Übernahme einer Formulierung aus der Weimarer Reichsverfassung heißt: „Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“
„Der dritte Weg“
Auf diese Bestimmung berufen sich die katholische und evangelische Kirche, um ihre 1,3 Millionen Beschäftigten einem Spezial-Arbeitsrecht zu unterwerfen, das neben Regeln für die persönliche Lebensführung auch das strenge Gebot der konfliktlosen Beilegung von Tarifstreitigkeiten vorsieht.
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Den „Dritten Weg“ nennen das die Kirchen. In Abgrenzung zum Lohndiktat des Arbeitgebers ebenso wie zur Lohnfindung im Arbeitskampf streitender Tarifparteien. Wo eine kirchliche „Dienstgemeinschaft“, sei es in der katholischen Caritas oder der evangelischen Diakonie, sich um angemessene Bezahlung ihrer Beschäftigten müht, da soll es gesittet zugehen. Da bleiben Gewerkschaften außen vor und sind Brachialmaßnahmen wie Streik oder Aussperrung tabu.
Suche nach Konsens
Stattdessen streben „Dienstgeber“ und „Dienstnehmer“ in paritätisch besetzten Kommissionen gemeinsam nach Konsens. Doch umgekehrt bedeutet das auch: Ohne Einigung keine Lohnerhöhung. Und bis zu einer Einigung kann es auch mal drei, vier Jahre dauern, so geschehen bei Caritas wie Diakonie im vergangenen Jahrzehnt.
Arbeitskampf ist unchristlich, so lässt sich die kirchliche Position zusammenfassen. Oder um es mit Robert Zollitsch zu sagen, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz: „Ein kirchlicher Arbeitgeber kann keine Kampfmaßnahme ergreifen, um einem Streik zu begegnen. Denn die Kirche kann weder die Glaubensverkündigung noch den Dienst am Nächsten suspendieren, um Druck auf ihre Mitarbeiter auszuüben.“
Verdi: Kirche drückt Löhne
Dabei hantieren die Kirchen mit einem weit gedehnten Begriff der Glaubensverkündigung, unter den eben nicht nur die Sonntagspredigt fällt, sondern auch der ärztliche Dienst in kirchlichen Kliniken, die Pflege in Altersheimen oder die Betreuung von Vorschulkindern.
Ein Dorn im Auge ist dieses Rechtsgebaren seit vielen Jahren der Gewerkschaft Verdi. Sie bezichtigt die Kirchen, unter dem Deckmantel göttlicher Berufung höchst weltliche Interessen zu verfolgen: „Die Diakonie nutzt das kirchliche Arbeitsrecht, um die Löhne abzusenken und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.“
Streit seit 2001
Damit zögen kirchliche Arbeitgeber „die gesamte Sozialbranche im Lohngefüge nach unten“. Weil ihnen die Waffe des Streikrechts fehle, müssten kirchlich Beschäftigte vielfach um zehn Prozent geringere Löhne hinnehmen als ihre Kollegen in staatlichen Einrichtungen. Eine Rechnung, die kirchliche Wortführer in Zweifel ziehen.
Verdi-Chef Frank Bsirske nahm 2001 den Kampf auf. Unter Berufung auf das Gutachten eines ehemaligen Verfassungsrichters drohte er mit Arbeitskämpfen auch in kirchlichen Einrichtungen. Es folgte ein zäher juristischer Kleinkrieg.
Nächste Runde in Karlsruhe
Die Gewerkschaft rief zum Streik auf, die Kirchen klagten dagegen, und das bis in die höchste Instanz. Diese, das Bundesarbeitsgericht, bestätigte gestern zwei Urteile der Landesgerichte in NRW und Hamburg, die 2011 ein generelles Streikverbot für kirchlich Beschäftigte abgelehnt hatten. Das letzte Wort ist freilich wohl noch nicht gesprochen. Vor dem Bundesverfassungsgericht soll der Streit in die nächste Runde gehen.