Düsseldorf. . Das Land plant fünf zusätzliche Kliniken für psychisch kranke Straftäter. In fünf neuen Kliniken in Reichshof, Lünen, Hörstel, Wuppertal und Haltern sollen bis 2020 insgesamt 750 Patienten untergebracht werden. Vor Ort formiert sich der Widerstand. Politiker in Lünen und Haltern reagieren schockiert auf die Pläne der Landesregierung.

NRW errichtet bis 2020 fünf neue forensische Kliniken zur Behandlung psychisch kranker und suchtkranker Straftäter. Weil die Zahl der Patienten im Maßregelvollzug in den letzten zehn Jahren von 1800 auf 3000 angestiegen ist, beschloss das Landeskabinett den Bau von 750 Plätzen. Neue Einrichtungen für jeweils 150 psychisch kranke Straftäter entstehen in Lünen (Areal Viktoria I/II), Haltern (Auguste Victoria), Hörstel (ehemaliger Militärflughafen), Reichshof und Wuppertal.

Um erbitterte Widerstände an Standorten zu begrenzen, will sich NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) vor Ort der Diskussion stellen. „Wir stehen unter Druck und müssen möglichst schnell ausbauen“, sagte Steffens. Nachdem 125 Kommunen angeschrieben wurden, gab es aber nur sechs Standortvorschläge – darunter das RAG-Gelände in Lünen. Die ersten neuen Einrichtungen sollen in maximal fünf Jahren verfügbar sein. Derzeit verfügt NRW über 2400 Plätze an den 14 Standorten Essen, Dortmund, Herne, Duisburg, Langenfeld, Bedburg-Hau, Düren, Köln, Viersen, Lippstadt-Eickelborn, Marsberg, Haldern, Rheine und Münster.

Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug, Uwe Dönisch-Seidel, betonte, dass es in neuen Forensik-Kliniken in NRW in den letzten zehn Jahren keinen Ausbruch gegeben habe. Auch die Zahl der Entweichungen – etwa bei zu später Rückkehr aus dem Urlaub oder vom Freigang – sei erheblich zurückgegangen. In der Vergangenheit hatten Ausbrüche und Geiselnahmen durch Patienten Ängste und massive Proteste in der Bevölkerung ausgelöst. „Klar ist: Der beste Schutz vor kranken Straftätern ist die Therapie“, warb Ministerin Steffens für Verständnis.

Zäune, Mauern, Kameras

Die neuen Einrichtungen werden videoüberwacht, verfügen über Sicherheitsschleusen und mehr als fünf Meter hohe Mauern oder Zäune. Patienten im Maßregelvollzug sind aufgrund ihrer Krankheit nicht oder vermindert schuldfähig. Jeder zweite Patient ist mindestens sechs Jahre in der Forensik. Die Delikte: 26 Prozent Körperverletzung, 16 Prozent Tötung, 20 Prozent Sexualdelikte.

Dönisch-Seidel schätzt die Kosten für den Bau der fünf neuen Kliniken auf 240 Millionen Euro. Erst 2011 war der Ausbau in Herne und Münster abgeschlossen worden. Seitdem steigen die Zahlen weiter. „Wir wollen den Ausbau Schritt für Schritt umsetzen und müssen den Bedarf ständig prüfen“, sagte Steffens. Die fünf Kliniken entstehen dort, wo der Bedarf nach einer wohnortnahen Unterbringung am größten ist. Patienten sollen möglichst nicht von ihrer Familie und ihren Betreuern getrennt werden, um eine spätere Wiedereingliederung nach der Therapie zu erleichtern.

Die Forensiken sind überfüllt

Viele NRW-Bürger dürften sich jetzt an den November 2000 erinnern: Damals verkündete Gesundheitsministerin Birgit Fischer (SPD), das Land brauche sechs neue Kliniken für psychisch kranke Straftäter. Heute ist Ministerin Barbara Steffens (Grüne) für das Thema zuständig. Ihre Botschaft ist die gleiche: Die Forensiken sind überfüllt, fünf neue müssen gebaut werden, darunter zwei am Rand des Ruhrgebiets: in Haltern und Lünen.

Die erste Reaktion vor Ort ist: Widerstand. Halterns Bürgermeister Bodo Klimpel (CDU) fiel aus allen Wolken. Am Dienstagabend um 21 Uhr hatte ihn Barbara Steffens darüber informiert, dass Haltern Standort für eine Forensische Klinik wird. „Ich war schockiert.“ Bis dato hatte er nichts von den Plänen gewusst. Die Stadt hatte im letzten Jahr dem Ministerium mitgeteilt, dass für ein derartiges Vorhaben kein geeignetes Grundstück zur Verfügung stehe. Allerdings hatte die Stadt die Rechnung ohne die RAG-Immobilien gemacht. Die hatte dem Ministerium das Gelände, auf dem sich zur Zeit noch ein Wetterschacht der Marler Schachtanlage Auguste Victoria befindet, als für den Forensikbau geeignet vorgeschlagen. Der Forensik-Standort (50 000 Quadratmeter) befindet sich abseits der Wohnbebauung in einem Naherholungsgebiet. In der Nähe: private Reiterhöfe sowie die Freizeitanlage Kettler Hof. Klimpel kündigte an, alle baurechtlichen Vorschriften zu überprüfen, um das Vorhaben zu verhindern. Der Standort sei wegen seiner touristisch genutzten Umgebung ungeeignet, sagt Klimpel. Gebaut werden könnte frühestens 2015, wenn die Schachtanlage in Marl geschlossen wird.

Bürgermeister: „Lünen eignet sich dafür nicht“

In Lünen soll auf der Zechen-Brache Victoria I/II eine Klinik für psychisch kranke Straftäter entstehen. Bürgermeister Hans Wilhelm Stodollick (SPD) reagierte prompt: „Wir sind alles andere als glücklich über die Entscheidung, denn wir halten Lünen und insbesondere diesen innenstadtnahen Standort für den Neubau einer Forensik für nicht geeignet.“ Gegen Victoria I/II spreche die Nähe zu Wohnhäusern, Altlasten im Boden sowie Probleme bei der Erschließung. Das arme Lünen, findet der Bürgermeister, habe schon genug Schwierigkeiten.

Die Stadtspitze weiß derzeit noch nicht einmal, warum Lünen in die Auswahl gekommen ist. SPD-Fraktionschef Rolf Möller sprach von „einem schlechten Tag für Lünen“. CDU-Fraktionschefin Annette Droege-Middel verspürt „tiefe Enttäuschung“.

Im „Maßregelvollzug“ werden Straftäter behandelt, die wegen ihrer psychischen Erkrankung nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden können. Nur wenige Frauen sind darunter. Laut Landschaftverband LWL geht es bei rund einem Viertel der Einweisungen um Sexualstraftaten – von Exhibitionismus bis hin zu Vergewaltigungen.

In den fünf neuen Kliniken in Reichshof, Lünen, Hörstel, Wuppertal und Haltern sollen bis 2020 insgesamt 750 Patienten untergebracht werden. Heute stehen für knapp 3000 psychisch kranke Täter nur 2400 Plätze zur Verfügung. „Wir sind unter Druck“, sagte Ministerin Steffens. 50 Patienten wurden bereits in Nachbarländer „ausquartiert“. Die Zahl der Forensik-Patienten dürfte weiter steigen: Auch weil Richter Straftäter häufiger in den Maßregelvollzug schicken, wenn Plätze zur Verfügung stehen.

Erinnerung an Dramen in Eickelborn

In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Forensik-Patienten in NRW fast verdoppelt. Viele werden schon länger als zehn Jahre behandelt. Die Hürden für die Entlassung dieser Patienten werden immer höher, und Gutachter neigen mehr und mehr zur Vorsicht, weil sie nicht für falsche Prognosen verantwortlich gemacht werden wollen.

Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug, Uwe Dönisch-Seidel, will beruhigen. In den letzten zehn Jahren wurde aus den neuen, besser gesicherten Forensiken in NRW kein Ausbruch gemeldet. In den rheinischen Kliniken gab es im Vorjahr nur noch knapp 50 Entweichungen – bei 1200 Patienten. Dabei handelte es sich meist um verspätete Rückkehr vom Freigang.

Doch es gibt keine absolute Sicherheit. 2008 hatte ein Sexualstraftäter in der damals bundesweit größten Forensik Lippstadt-Eickelborn bei einem Ausgang versucht, seine 29-jährige Begleiterin zu vergewaltigen. Im Umfeld der Klinik wurden seit 1961 fünf Morde verübt. Ein Fall erschütterte die Republik: 1994 vergewaltigte und tötete ein Patient auf Freigang ein siebenjähriges Mädchen.