Berlin. Die Zahl der angezeigten Fälle von Kindesmisshandlungen ist in den vergangenen zehn Jahren erheblich gestiegen. Nach Meinung der Experten dürfte die Dunkelziffer noch deutlich höher liegen.
Die Zahl der bekannt gewordenen Kindesmisshandlungen in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich gestiegen. Das Bundeskriminalamt (BKA) registrierte 2008 mehr als 4000 Fälle, bei denen unter 14-jährigen Jungen und Mädchen Gewalt angetan wurde. 1999 waren es über 2600 Fälle, wie der Abteilungspräsident des Kriminalistischen Instituts beim BKA, Carl-Ernst Brisach, am Donnerstag in Berlin sagte. Zugleich sei im vergangenen Jahrzehnt die Zahl der gewaltsam ums Leben gekommenen Kinder zurückgegangen. Laut Statistik starben im Vorjahr 188 unter 14-Jährige, 1999 waren es 280.
Erhebliche Dunkelziffer
Nach Angaben Brisachs «dürfte das sogenannte Dunkelfeld bei Misshandlungen nicht unerheblich sein, denn wir können nur erfassen, was angezeigt wird.» Deshalb sei es erfreulich, dass nach den tragischen Todesfällen von Kevin in Bremen oder Lea-Sophie in Schwerin die Bevölkerung mehr sensibilisiert sei, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Bernd Carstensen. «Dabei ist es egal, ob Nachbarn ihre Informationen an die Polizei, Jugendämter oder die Kirche weitergeben», fügte er hinzu.
Zugleich kritisierte der BDK-Vize, dass es der großen Koalition in Berlin nicht gelungen sei, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg zu bringen. Der Datenschutz behindere weiterhin die Zusammenarbeit der Behörden, sagte Carstensen.
Kindesmisshandlung kann verhindert werden
«Immer noch kommt Datenschutz vor Kinderschutz», sagte der Direktor der Klinik für Kinderchirurgie an der Berliner Charité, Harald Mau. «Wenn ich einen Fall öffentlich mache, verstoße ich gegen die ärztliche Schweigepflicht», sagte Mau, der als Initiator der bundesweit ersten Kinderschutzgruppe gilt. Darin arbeiten unter anderem Kinderärzte, Sozialarbeiter und Chirurgen zusammen. «Kindesmisshandlung ist ein sozialer Unfall, der verhindert werden kann», sagte der Mediziner.
Wie der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, auf ddp-Anfrage sagte, ist die innerfamiliäre Gewalt seit Jahren rückläufig. Die jetzt vorgelegten Zahlen belegten lediglich, dass nach dem 2002 in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetz mehr Delikte angezeigt würden. Er kündigte zugleich an, dass bis zum Jahresende erste Ergebnisse einer neuen Studie vorgestellt werden sollen. Darin gehe es um mehr Erkenntnisse über die «Grundmuster», aus der Gewalt entstehen kann.
Kinderschutz zur Chefsache machen
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Georg Ehrmann, forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, das Thema Kinderschutz zur Chefsache zu machen. In dieser Legislaturperiode sei es bei sehr gutem Willen aller Verantwortlichen noch möglich, das Gesetz zu verabschieden. Die SPD hatte am Montag in Berlin erklärt, wegen «unüberbrückbarer Differenzen zwischen den Koalitionspartner» sei vor der Bundestagswahl keine Einigung mehr möglich. Mit dem Kinderschutzgesetz sollten Jugendämter als Reaktion auf die bekanntgewordenen Fälle von Kindesmissbrauch und -vernachlässigung weitergehende Kompetenzen erhalten. (ddp)