Berlin. Der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz setzt sich mit dem „Einheitskanzler“ Helmut Kohl auseinander. Es ist nicht nur die Story des Kanzlers. Es beleuchtet die Gefühlslage der „Generation Kohl“, die sich nach 16 Jahren Amtszeit kaum mehr einen anderen an der Spitze vorstellen konnte.

Das Buch ist so mächtig wie es auch der 1,93 Meter große Mann sehr lange war, dessen Leben es notiert. 1083 Seiten umfasst „Helmut Kohl. Eine politische Biografie“. Der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz hat es geschrieben. Es ist nicht nur die Story des Kanzlers aus der Pfalz. Es beleuchtet die Gefühlslage der „Generation Kohl“, die sich – nach 16 Jahren Amtszeit – bei seinem vom Wähler erzwungenen Ruhestand 1998 kaum mehr einen anderen an der Spitze Deutschlands vorstellen konnte.

2. Oktober 1982, vor fast 30 Jahren. Helmut Kohl ist keine 24 Stunden Kanzler der Bundesrepublik. Er hat am Vortag Helmut Schmidt in einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt. Jetzt trommelt er Söhne und Mitarbeiter zusammen und holt mit ihnen die Möbel aus dem Bundeshaus ins Kanzleramt. Er packt selbst an. Montag wird das Kabinett vereidigt.

Wirkliche Enthüllungen sind in einer gläsernen Demokratie eher selten

Es ist eine kleine Randgeschichte. Wirkliche Enthüllungen sind in einer gläsernen Demokratie eher selten. Schwarz hat 250 freigegebene Geheimdokumente verwerten können, Teile des Kohlschen Privatarchivs und Tagebücher von Politikern wie Kurt Biedenkopf und Walter Leisler Kiep. Enthüllen kann er am Ende wenig, zumal die spannenden Vorgänge der Vereinigungs-Jahre 1989 und 1990 anderswo längst festgehalten oder in verschlossenen Archiven gebunkert sind. Auch weiß Schwarz nicht, wer die ominösen Millionen gespendet hat, die dem Einheitskanzler einen beschädigten Abgang und Ruf bescherten.

Aber der Autor korrigiert festgefahrene Eindrücke von der Politik und der Person, die Deutschland zur Einheit verhalf - und zur europäischen Einheitswährung. „Er ist einer der großen Beweger“, sagt Schwarz, in jeder Hinsicht sei er „ein Riese“.

Der Reformer Helmut Kohl

Riese ja – aber Kohl ein Reformer, wo er doch alles aussaß? Wir lernen: Er war es. „Demokratisierungen“ fordert er schon als Jungunionist. Wenig später muss die körperlich beeindruckende Gestalt aus Ludwigshafen der behäbigen rheinland-pfälzischen CDU der 60er-Jahre wie ein Gottseibeiuns („Luzifer“) erscheinen. Für die Bewahrer hat er, berichtet der Biograf aus einem Wortwechsel mit Heiner Geißler, offenen Spott: „Die Leute in Rheinland-Pfalz sind seit Jahrhunderten vom Alkohol vergiftet, und das hat sich auch jeweils auf die Nachkommenschaft weiter vererbt“. Helmut Kohl hat das kleine Land als Ministerpräsident entgiftet: Die Schulen umgebaut, die Gebietsreform durchgesetzt, als erster das Wort „Umweltschutz“ auf die Agenda eines Bundeslandes geschrieben.

Helmut Kohl blieb was seinen Glauben an die Zukunft eines vereinten Deutschlands angeht, offenbar lange abwartend. Foto: dapd
Helmut Kohl blieb was seinen Glauben an die Zukunft eines vereinten Deutschlands angeht, offenbar lange abwartend. Foto: dapd © Unbekannt | Unbekannt

Es hat etwas, sich Kohl als Grünen vorzustellen. Oder auch als Linken. Schwarz macht es möglich. Er erzählt, wie der Einfluss des sozial denkenden Dekans Finck auf den Katholiken Kohl wirkte: „Herzhaft, offen, notfalls grob und auf der Dampfwalze einherfahrend“ seien die Reformen mit langem Atem erledigt worden. In Mainz. In Bonn.

Der Europäer

Einheitskanzler war Kohl kurze Zeit. Europäer war er immer. Europa ist seit Leitbild. Früh in der Frankreich so nahen Pfalz erkannte er die „Relativität staatlicher Grenzen“. Bei Weißenburg - hier beginnt der Elsass - hat er schon 1947 demonstrativ den Schlagbaum demoliert. „Wir wollten die Vereinigten Staaten von Europa“, zitiert Schwarz Kohl. Wollten? 44 Jahre später, im Frühjahr 1991, hat er dem Bonner Parteivorstand genau dieses Ziel für die Zukunft vorgegeben: Vereinigte Staaten von Europa. Kein aktiver Spitzenpolitiker wagt heute diese Formel. So widerlegt Schwarz gerne die oft erzählte Mär, die Nachbarländer hätten dem Kanzler den Euro abgepresst als Preis für ihr Ja zur Einheit. „Die Wiedervereinigung war dabei durchaus nicht der entscheidende Vorgang“, stellt der Wissenschaftler fest. Der Handel war anders: „Er war ein Verführter“, sagt Euro-Kritiker Schwarz, der sich mit dieser Kritik im Buch auch mal über eine halbe Seite selbst zitiert: „Er ließ sich darauf ein, um bei der Errichtung der Europäischen Union weiterzukommen“. Wahr ist wohl: Der Euro nahm Gestalt in vielen Gesprächen mit Frankreichs Staatschef Mitterrand an, weit vor dem Mauerfall. Als Details verhandelt wurden, überließ der Regierungschef das anderen.

Der Einheitskanzler

Glaubte Kohl an die Einheit der Deutschen? Das Buch schärft hier besonders das Geschichtsbild: Er tat es lange nur abwartend. Schwarz ermittelt einen Kanzler-Satz, den dieser gegenüber dem belgischen Premier 1984 geäußert hat. Es wäre schwer für Europa, in der Mitte 77 Millionen Deutsche in einem Nationalstaat zu ertragen. Irlands Staatschef sagte er, „die Wiedervereinigung stehe nicht auf der Tagesordnung“. Dass Ost-Berlin „nicht destabilisiert“ werden durfte? Eine Grundlinie der Kohlschen Politik. „Möglichst viel Frischluft“ sei in die DDR zu pumpen, „aber nicht so viel, dass sie Lungenentzündung bekommt“. Es ist ein Zitat aus dem Juni 1988 – genau ein Jahr nach dem historischen Appell des US-Präsidenten Ronald Reagan: „Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein!“ Der Kanzler habe mit seiner Zurückhaltung nur die Grundstimmung der Westdeutschen wiedergegeben, entschuldigt Schwarz. Wer anders dachte, wurde in der Union als „Stahlhelm“ eingeordnet. Es waren Kohls Leute, die dafür sorgten.

Der Machtmensch

1989 fiel die Mauer. Kohl verstand. Es begann die zweite Phase der Herrschaft des „schwarzen Riesen“. Im Kampf um die außenpolitische Absicherung der Einheit brauchte er jetzt das Standvermögen, das ihm Machtkämpfe mit Rivalen wie Stoltenberg, Biedenkopf und Albrecht untergefüttert hatten. Die ganze Klaviatur der Tricks hat er dabei gelernt. Die Rücktrittsdrohung, um einen Kreditvertrag mit Polen durchzusetzen. Die Einführung längerer Wahlperioden für den Fraktionsvorsitz, um Anfeindungen überstehen zu können. Kohl musste viel kämpfen. Zwischen Mai und Juni 1973, als nach einem gnadenlosen Gezerre mit Franz-Josef Strauß seine Ära an der Spitze der CDU beginnt. Im Sommer 1979, als der CSU-Chef Kanzlerkandidat werden will und wird – und die Wahl verliert. Punkt für den Pfälzer. Schließlich der Putschversuch, bevor der Osten kollabiert: Der Schwabe Späth, an der Spitze der Verschwörung, zaudert. Generalsekretär Geißler wird entmachtet. Mitverschwörer Blüm wechselt die Seite. Kohl, durch eine Prostata-Entzündung gepeinigt, beißt „stoisch wie ein Indianer am Marterpfahl“ (Schwarz) den Widerstand weg. Am Vorabend des alles entscheidenden Parteitags werden - welcher Zufall – die Bilder von der durch den Kanzler mit ausgehandelten Ausreise der DDR-Bürger aus Ungarn live übertragen. Die Geschichte leistet Beihilfe.

Der private Kohl

„Life is unfair“, schreibt der vom Grund her mit Kohl sympathisierende Autor im Nachwort, „niemand wird das bestreiten, der dem in den Rollstuhl gebannten, mit Sprachschwierigkeiten ringenden Helmut Kohl in den letzten Jahren gesehen hat“. Da waren der Suizid der unheilbar kranken Hannelore Kohl so kurz nach der Spendenaffäre und das offensichtliche Zerwürfnis mit den Söhnen, als er seine Mitarbeiterin Maike Richter zur Frau nimmt. Da gab es die Implantation der künstlichen Kniegelenke und den 23. Februar 2008, die „tiefste existenzielle Zäsur“. Nach einem Sturz telefoniert der Schwerverletzte Hilfe herbei. Ein „schweres Schädel-Hirn-Trauma“ bleibt zurück. Es beeinträchtigt das Sprachvermögen bis heute. Kohl ist 82. Auch Riesen müssen leiden, stellt Hans-Peter Schwarz fest.

Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biografie. DVA, 1083 Seiten, 35 Euro.