Athen.. Der griechische Ministerpräsident Antonis Samaras kommt am Freitag nach Berlin. Mit der Kanzlerin will er über einen Aufschub bei der Umsetzung der rigiden Sparreformen verhandeln. Die Wirtschaft brauche eine „Atempause“, sonst drohten soziale Unruhen, fürchtet er. 800 Arbeitsplätze verschwinden pro Tag, immer mehr Menschen stehen ohne jede finanzielle Absicherung da. Die Verzweiflung wächst.
Europa müsse „die Zähne zeigen“, an den Griechen gelte es jetzt „ein Exempel zu statuieren“, fordert Markus Söder. „Irgendwann muss jeder bei Mama ausziehen, und die Griechen sind jetzt so weit“, urteilt Bayerns Finanzminister. Angelos Karydas hat das in der Zeitung gelesen. Und findet den Vergleich gar nicht komisch. Angelos ist 45 und lebt seit zwei Wochen wieder bei den Eltern.
Er schläft auf einem Klappbett im Wohnzimmer, weil sonst kein Platz ist in der kleinen Zweizimmerwohnung im Athener Stadtteil Ilioupolis. Angelos blickt zu Boden, als er seine Geschichte erzählt. Seine Hände zittern. Er schämt sich.
Im April 2011 verlor Angelos seinen Job als Verkaufschef eines großen Athener Autohauses. Der Händler musste Insolvenz anmelden. Seit 2010 brach der griechische Automarkt um 65 Prozent ein. Ein Jahr lang erhielt Angelos Arbeitslosengeld, 360 Euro zuletzt. Ende Juli waren alle Ersparnisse aufgezehrt; er gab seine Wohnung auf und zog zu den Eltern. Ein neuer Job ist nicht in Sicht.
800 Arbeitsplätze pro Tag verschwinden in Griechenland
Die Chancen stehen schlecht: Jeden Tag gehen in Griechenland rund 800 Arbeitsplätze verloren. „In meinem Alter habe ich nicht mal mehr Aussicht auf ein Bewerbungsgespräch“, sagt der 45-Jährige. Zu dritt lebt die Familie nun von der Rente des 74-jährigen Vaters. Vor der Krise bekam der pensionierte Buchhalter rund 1000 Euro im Monat, nach drei Rentenkürzungen in nicht einmal zwei Jahren sind es heute knapp 800 Euro. Jetzt steht die nächste Sparrunde an. „Ich weiß nicht, wie wir dann über die Runden kommen sollen“, sagt Angelos.
Die Griechen müssten sich „mehr anstrengen“, wenn sie im Euro bleiben wollten, sagt Unionsfraktionschef Volker Kauder. Auch dieses Zitat hat Angelos in der Zeitung gelesen. „Zynisch“ findet er das.
Der Euro spaltet Europa
Der Euro sollte Europa einen. Jetzt spaltet er den Kontinent. Vor allem zwischen Griechen und Deutsche, früher mal ziemlich gute Freunde, treibt die Eurokrise einen Keil. Viele Griechen machen die deutsche Politik verantwortlich für das harte Spardiktat, das ihr Land ins Elend treibt. Seit Beginn der Krise hat Griechenland fast ein Fünftel seines Bruttoinlandsprodukts eingebüßt. Die Arbeitslosenquote liegt bei 23 Prozent, unter denen, die jünger sind als 25 Jahre, ist mehr als jeder Zweite ohne Job. In diesem Jahr wird die Wirtschaft um sieben Prozent schrumpfen.
Die Krise zermürbt die Griechen, sie hat sie ausgelaugt, mutlos gemacht, manche verzweifeln. Wie der 61-jährige Elektriker, der sich in einer Grünlange im Athener Stadtteil Nikaia an einem Baum erhängte. Auf dem Rasen stand die Werkzeugtasche mit seinem Abschiedsbrief: „Mein Leben lang habe ich gearbeitet, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche, aber nicht einmal das reicht mehr.“
Immer häufiger lesen die Griechen in den Zeitung von solchen Dramen: Ein 77-Jähriger schoss sich mitten auf dem Syntagmaplatz vor entsetzten Passanten eine Kugel in den Kopf; ein Bankangestellter stürzte sich von der Akropolis in den Tod; ein Rentner sprang vom Balkon, als der Gerichtsvollzieher mit dem Räumungsbefehl kam.
761 154 registrierte Arbeitslose leben von: nichts
In Griechenland ist es nur ein kleiner Schritt von der Arbeitslosigkeit in die Ausweglosigkeit. Das Arbeitslosengeld läuft nach zwölf Monaten aus, es gibt weder Sozialhilfe noch eine Grundsicherung wie Hartz IV. 922.070 Griechen waren im Juli arbeitslos gemeldet; nur 160 916 haben Anspruch auf Unterstützung. Die übrigen 761 154 sind ohne jedes Einkommen.
Vielen Menschen fehlt selbst das Nötigste. Viele Supermärkte haben Container neben der Kasse, hier kann man Lebensmittel für Bedürftige spenden: Konserven, Nudeln, Olivenöl, Reis, Linsen. „Gemeinsam schaffen wir es“ lautet das Motto der Aktion, die der Rundfunksender Skai initiiert hat.
Die orthodoxe Kirche verteilt die Hilfsgüter. Etwa 250 000 Menschen verköstigt sie bei Armenspeisungen im ganzen Land – Tag für Tag. Für jene, die sich noch ein eigenes Mahl leisten können, hat die Autorin Eleni Nikolaidou ein Buch geschrieben: „Die Rezepte des Hungers“. Es enthält Kochrezepte aus den Jahren der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, als man mit ganz wenig auskommen musste. Im Winter 1941-42 verhungerten und erfroren in Griechenland 300 000 Menschen, weil die deutsche Wehrmacht Nahrungsmittel und Brennstoffe beschlagnahmt hatte.
Erinnerungen an Gewalt, Hunger, Tod
Manche Griechen sehen ihr Land jetzt erneut im Joch der Besatzung. Diesmal sind es nicht Soldaten, es ist die Troika, die ein Sparprogramm diktiert, das immer mehr Menschen in die Armut treibt. Und dass es sich bei zwei der drei Troika-Delegationschefs um Deutsche handelt, ist für viele Griechen ebenso wenig ein Zufall wie der Umstand, dass der Deutsche Horst Reichenbach die Task Force leitet, die den Griechen bei der Reform ihrer öffentlichen Verwaltung helfen will.
Einige griechischen Medien stellen Reichenbach als „Gauleiter“ dar. Jeder dritte Grieche, so eine Umfrage des Magazins „Epikaira“, denkt beim Stichwort Deutschland spontan an Begriffe wie „Hitler“, „Nazis“, „Drittes Reich“. Nur einem von hundert fällt die deutsche Tugend „Fleiß“ ein. 76 Prozent sehen in Deutschland ein „feindliches Land“.
Wenig Hoffnung auf Beistand
Große Hoffnungen knüpfen die Griechen deshalb nicht an den Berlin-Besuch ihres Ministerpräsidenten. Samaras will in Berlin um mehr Zeit werben, eine „Atempause“, um die Wirtschaft aus der Talsohle zu führen, sonst drohten soziale Unruhen, fürchtet er. Aber viele glauben, Samaras sei damit bei Merkel an der falschen Adresse. Der Premier werde „vor einer neuen Berliner Mauer stehen“, prophezeit die Zeitung „Ta Nea“. Die „eiserne Kanzlerin“ habe Griechenland längst abgeschrieben, glauben viele Kommentatoren in Athen.
Angelos war früher oft in Deutschland, er hat Freunde in Ingolstadt. Jetzt kann er sich die Reisen nicht mehr leisten. Und selbst wenn er es könnte – er möchte nicht mehr hinreisen. „Deutschland? Nein danke“, sagt Angelos.