Essen. . Ermittlungspannen in der Neonazi-Mordserie haben am Mittwoch einen dritten Verfassungsschutz-Chef den Job gekostet. Der Präsident des sächsischen Landesamtes, Reinhard Boos, bat um seine Versetzung. Drei Rücktritte innerhalb weniger Tage zeigen: Die Behörde muss neu aufgestellt werden.

Pannen in Serie, drei spektakuläre Rücktritte binnen weniger Tage, der bizarre Auftritt eines langjährigen Chefs – beim Verfassungsschutz geht es drunter und drüber. Nach dem obersten deutschen Verfassungsschützer Heinz Fromm und Thüringens Verfassungsschutzpräsident Thomas Sippel tritt nun auch dessen sächsischer Amtskollege Reinhard Boos in Folge der Ermittlungspannen im Fall der Zwickauer Neonazi-Mordserie ab.

Nichts verdeutlicht den inneren Zustand des Verfassungsschutzes im Lande mehr als der Auftritt des Thüringischen Ex-Verfassungsschutz-Chefs Helmut Roewer vor dem Untersuchungsausschuss des Erfurter Landtags. „Einige Mitarbeiter wurden fortgebildet, einige gingen, die Dummen hielten sich im Amt“, umschrieb Roewer freimütig die Situation in der Behörde, der er von 1994 bis 2000 vorstand. „Es war überhaupt nichts vorhanden“, so sein Resümee. Niemand habe ein adäquate Ausbildung gehabt, „außer ich“. Allerdings: Auch Roewer selbst, während dessen Amtszeit das Neonazi-Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt 1998 in den Untergrund abtauchte, steht in der Kritik.

Ein Ex-Mitarbeiter der Behörde berichtete vor dem Erfurter Ausschuss von skurrilen Vorfällen. „Der Roewer ist mit nackten Füßen durchs Amt gelaufen“, so der Zeuge. Seine schmutzigen Füße habe er dann auf den Schreibtisch gelegt. Und: „Einmal habe ich Roewer mit Kerzen, Käse, Rotwein und sechs Damen angetroffen.“ Roewer wurde im Jahr 2000 nach einer Reihe von Affären vom Dienst suspendiert.

„Nicht gesucht und nicht gefunden“

Fragt sich: Wie kam Roewer an den Top-Job? Nun, nachdem der Verfassungsschutz in den Fokus der Kritik rückt, will niemand mehr für dessen Einstellung verantwortlich gewesen sein. Symptomatisch ist dazu die Aussage des damaligen thüringischen Innenministers Franz Schuster vor dem Ausschuss. „Er hat sich bei mir gemeldet“, erzählte der Christdemokrat. Er selbst habe Roewer „nicht gesucht und nicht gefunden“. Später habe die Regierung dann irgendwie über die Personalie beraten und sich für Roewer entschieden.

Der Verfassungsschutz – eine Behörde ohne straffe Führung, in der Inkompetenz und Gleichgültigkeit herrschen? Eine Behörde mit bizarrem Innenleben, unfähig zur Kooperation? Ein Amt, das trotz einem Heer von Mitarbeitern unfähig war, einer über Jahre hinweg agierenden rechtsextremen Mordbande auf die Schliche zu kommen, obwohl es Anzeichen dafür gab? Manches spricht für diese Einschätzung.

Rücktritte in Serie

So nahm Bundesverfassungsschutz-Chef Fromm seinen Hut, nachdem ein Abteilungsleiter seines Hauses brisante Daten über die rechte Szene eigenmächtig vernichtet hatte. Der Verdacht der Vertuschung steht im Raum.

Wenig später musste Thüringens oberster Verfassungsschützer Sippel gehen. Er habe nicht mehr das Vertrauen des Parlaments, waren sich die Fraktionen im Landtag einig. Sippel soll Akten über die Fahndung nach Neonazis zurückgehalten haben.

Und nun also auch Sachsens Verfassungsschutz-Präsident Boos. Er übernimmt mit seinem Rücktritt die Verantwortung für Pannen, wiederum bei der Fahndung im rechtsextremen Milieu. Innenminister Markus Ulbig (CDU) spricht von „eklatantem Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter“ beim Verfassungsschutz.

„Chaotischer Zustand“

All dies deutet darauf hin, dass beim Verfassungsschutz insgesamt einiges im Argen liegt. Die Behörde braucht eine Neuaufstellung. Die Kooperation zwischen Bundesamt und Landesbehörden funktioniert nicht. Die einzelnen Ämter führen ein Eigenleben, einzelne Abteilungen sind gleichsam ohne Kontrolle. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) spricht von einem „chaotischen Zustand“. Sie fordert: der Bund muss die Führung übernehmen. 16 Landesämter, wie bisher, seien nicht notwendig.