Brüssel. Die EU-Abgeordnete und einstige Doktorin Silvana Koch-Mehrin (FDP) lädt Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin nach Brüssel ein, um über Einwanderung zu diskutieren. Glücklicherweise diskutiert der Deutsche Mehmet Daimagüler auch noch mit. Während Sarrazin seine Thesen ausbreitet, schweigt Koch-Mehrin.
Sie traut sich was. Nach der Aberkennung ihres Doktortitels wegen Plagiats-Vorwürfen war die EU-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin lange abgetaucht. Nun ist die einst öffentlichkeitsbewusste FDP-Politikerin wieder da – an der Seite von Thilo Sarrazin. Sie lud den umstrittenen Buchautor diese Woche ins Europäische Parlament zu einer Diskussion. Das Thema: „Vielfalt – Eine Voraussetzung für Entwicklung oder eine Gefahr für Europa?“
Koch-Mehrin eröffnet die Debatte mit wenigen Worten. „Ich hab mal gelesen, in Europa lebten mehr Muslime als niederländische Bürger.“ Und: „Ein amerikanischer Freund sagte mal: In den USA dauert es drei Monate, bis man US-Bürger ist - in Europa dauert es 300 Jahre.“ Dann hält sie sich zurück. Die Moderation überlässt sie einer britischen Journalistin.
Sarrazin diskutiert mit dem "Vorzeige-Migranten" Mehmet Daimagüler
Klugerweise hat die FDP-Politikerin nicht nur Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) geladen, sondern auch Mehmet Daimagüler eingeladen. Der Anwalt, dessen Eltern einst als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen, hat ebenfalls ein Buch geschrieben („Kein schönes Land in dieser Zeit – Das Märchen von der gescheiterten Integration“).
Zeitungen nennen ihn „Vorzeige-Migrant“ oder „Vorzeigetürke“. Dabei ist Daimagüler Deutscher: 1968 kam er in Siegen (NRW) zur Welt. Sein Buch schrieb er aus einem ganz speziellen Grund, wie er einmal in einem Interview erzählte: „Ich hatte keine Lust mehr auf das Klischee des Gastarbeiterjungen, der es bis nach Harvard geschafft hat, auf diese Äußerlichkeiten, die eigentlich nichts über ein Leben sagen.“
Klischees bekommen Daimagüler und die Zuhörer – darunter viele EU-Parlamentarier aus vielen Ländern – bei der Diskussion reichlich serviert. Dafür sorgt Sarrazin, fast zwei Stunden lang.
Sarazzin beginnt vorsichtig - und haut dann drauf
Der talkshow-gestählte Ex-Bundesbanker weiß, wie man provoziert. „Niemand kann gegen Vielfalt sein“, sagt er ganz zahm ganz am Anfang der auf Englisch geführten Debatte. „Aber gemeinsame Werte, Regeln und Kultur ist nötig, sonst gibt es Unruhen, einen Mangel an Fortschritt und schließlich möglicherweise der Verfall von Nationen.“
In der Gesellschaft sei es wie in einer Ehe, sagt Sarrazin. „Man kann nur ein bestimmtes Maß an Vielfalt ertragen.“ Deutschland brauche angesichts sinkender Geburtenraten zwar Einwanderer - „aber von ähnlichen Kulturen, von Menschen, die zu unserem Bildungs- und Wissenschaftsniveau beitragen und es nicht herunter ziehen.“
Spätestens da schluckt manch einer im gut gefüllten Saal des EU-Parlaments. Doch es dauert noch einige Minuten, bis Sarrazin auf die muslimischen Bürger zu sprechen kommt. Er erzählt von Diskussionen mit jungen Kopftuch-Frauen, die zwar „sehr gut Deutsch“ sprächen, aber – zumindest aus Sarrazins Sicht - merkwürdige Ansichten hegten. Sarrazin wettert gegen das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau. Und wirft mit Zahlen und Umfrageergebnissen um sich, um zu zeigen, dass die „3,5 Millionen Menschen in Deutschland mit türkischen Wurzeln“ sich abkapselten.
Daimagüler wirft Sarrazin Rassismus vor
Daimagüler kann da nicht ruhig bleiben. Ihm gehen Sarrazins Zahlen- und Statistik-Salven, sein stetes Anreden gegen Muslime sichtbar auf die Nerven. „Muslime runterzumachen statt Ausländer – das ist nur ein Weg, fremdenfeindlich und rassistisch zu sein“, wettert er.
Auch Daimagüler wirft zig Zahlen in die Debatte. Doch während Sarrazin eher Vorwürfe und vermeintliche Fakten äußert, sucht Daimagüler nach Erklärungen hinter den Statistiken.
Die Gastarbeiter, die Deutschland anlockte, hätten lange nicht gedacht, dass sie dauerhaft in der Bundesrepublik blieben. Daher hätte seine Mutter nicht richtig Deutsch gelernt. Zudem seien viele kaum ausgebildete Türken in deutsche Fabriken geholt worden. Im Vergleich zu ihnen hätten ihre Kinder und Enkel in Deutschland eine viel bessere Bildung genossen. Überhaupt Bildung. Sie ist – neben der Sprache - für Daimagüler der Schlüssel, in einem Land wirklich anzukommen.
Silvana Koch-Mehrin sagt nichts
Daimagüler erhält vom internationalen Publikum viel Zuspruch. Auch Sarrazin muss nicht nur Kritik einstecken. Ein ungarischer EU-Abgeordneter lobt ihn und sagt: „Der Multikulturalismus ist gescheitert.“ Sofort nach der Debatte kommen Zuhörer zu Sarrazin, damit er ihnen sein mittlerweile zwei Jahre altes Buch „Deutschland schafft sich ab“ signiert.
Und Silvana Koch-Mehrin? Die Politikerin, die einst die Medien-Öffentlichkeit suchte, verschwindet nach der Debatte rasch und unbemerkt vom Podium. Unbemerkt blieb davor nicht, dass sich ihr Lächeln während der Diskussion verstärkte. Und zwar, als der Ausspruch kam, dass man mit einem Doktortitel in Deutschland mehr gelte.